
Wann immer das Fräulein „So-La-La“ Gelegenheit fand, saß sie an ihrem Schreibtisch, um die Zahl ihrer Luftballonkinder zu vermehren.
Es waren eigenwillige Wesen, die sie mit ihren Malstiften auf dünnes Papier zeichnete.
Allen gleich war ein zum Platzen geschwollener Kopf. Der Rest an ihnen bestand aus hungerdünnen Strichen, die sich in Länge und Stärke zum Verwechseln ähnlich waren. Der Rumpf unterschied sich vom Rest einzig dadurch, dass er senkrecht abfiel. Die Arme spreizten sich an ihm auf halber Strecke waagrecht nach links und rechts. Und unten nach strebten die Beine nach beiden Seiten voneinander weg, als wären sie zerstritten.
Waren die ersten Exemplare noch daumengroß, legten ihre Nachkommen an Größe und Umfang stetig zu.
Die anschwellende Körperfülle sorgte für allgemeine Ratlosigkeit.
Das Fräulein „So-La-La“ malte ihnen keinerlei Süßigkeiten oder andere Naschereien in die Hand. Genauso wenig wie sie ihren Schöpfungen einen Kühlschrank gönnte, an dessen Inhalt sie sich hätten fett fressen können.
Trotz dieses offensichtlichen Mangels an Essbarem platzten die Luftballonkinder auf den Zeichenblättern bald aus allen Ecken und Enden.
Zuerst verlor sich der Mittelfinger einer rechten Hand. Dann fehlte eine linke Hand, die mit einem scharfen Schnitt vom Armgelenk abgetrennt wurde. Am nächsten Tag fielen die Füße dem unerbittlichen Seitenende zum Opfer.
Die Raumnot wurde mit jedem Bild offensichtlicher. Den traurigen Schlusspunkt setzte ein schmaler Hals, der sich erwartungsvoll aus einem fein linierten Kleidersack streckte.
Punktgenau setzte das Fräulein „So-La-La“ den Stift für den Kopf an. Da fällte Blattrand mit der Gnadenlosigkeit eines Scharfrichters sein Urteil.
Mit einem lauten Aufschrei schleuderte das Fräulein „So-La-La“ den Zeichenstift von sich fort.
Der Anblick der kopflosen Figur war mehr als sie ertragen konnte.
„Der arme Teufel sieht aus wie ein Strich, dem das Tüpfelchen fehlt.“, lautete das knappe Urteil der zur Besichtigung des Unglücks herbei geeilten Mutter.


Nach außen missbilligte sie die Methode des Köpfeabschneidens. Im Stillen dankte sie dem scharfen Blattrand für sein entschlossenes Eingreifen, das der ungezügelten Vermehrung der Luftballonkinder ein Ende setzte.
„Was ist ein Tpülfehcen?“, platzte das Fräulein „So-La-La“ fast vor Neugierde.
„Es ist der kleine Unterschied, der ausmacht, dass du „Du“ bist und ich „Ich“ bin.“, erklärte die Mutter feinsinnig.
Das Fräulein „So-La-La“ rümpfte die Nase. Der Zeigefinger ihrer rechten Hand zuckte nervös. Sie blickte die Mutter mit großen Augen an.
Der Unterschied zwischen ihnen war für jedermann zu erkennen. Er war um das Tausendfache größer als ein winziger Punkt.
Die Mutter ignorierte den nervös vor ihrer Nase tanzenden Zeigefinger.
Sie griff nach einem Stift und setzte mit einem kurzen Schwung einen senkrechten Strich auf das Zeichenblatt, wo die letzte Schöpfung des Fräuleins „So-La-La“ immer noch hoffte, einen Kopf auf den Hals zu bekommen.
„Was siehst du darin?“, fragte sie.
Das Fräulein „So-La-La“ war ratlos. Das Räderwerk in ihrem Kopf besaß die Fähigkeit, binnen Sekunden die kompliziertesten Gedanken zu fabrizieren. Aber dieses Mal versagten die Zahnräder ihren Dienst.
Sie untersuchte den Strich von links und von rechts. Sie beäugte ihn von oben und von unten. Aber es machte keinen Unterschied, von welcher Seite sie sich ihm näherte. Der Strich blieb immer ein Strich.
„Vielliecht ist es ein verirtrer Snonenstarhl“, rätselte sie.
In ihren Zeichnungen strahlte die Sonne mit ähnlichen Strichen aus der Ecke.
„Es könnte auch ein Grashalm auf einer Wiese sein.“, antwortete die Mutter und malte einen dicken Punkt haargenau über den Strich.
„Aber wenn der Strich sein Tüpfelchen bekommt, sieht jeder was er wirklich ist.“
Sichtlich zufrieden betrachtete die Mutter ihr Werk.
„Durch den Punkt weiß er um seine wahre Natur. Er ist kein bedeutungsloser Strich mehr ist, sondern ein Buchstabe, der in Wörtern und Büchern sein Zuhause hat.“


Das Gehörte versetzte das Fräulein „So-La-La“ in helle Aufregung. Vielleicht war etwas Wahres an der Geschichte. Spontan entschloss sie sich zu einem Selbstversuch.
Sie legte den Kopf in den Nacken und blickte zur Decke hoch. Wie nicht anders erwartet schwebte kein Punkt über ihr, der sie mit einem unverwechselbaren Tüpfelchen ausstattete.
Die Erkenntnis traf sie mit der Wucht eines Nackenschlages. Plötzlich wusste sie, woran es ihrem Dasein mangelte. Es fehlte ihr die Bestimmung, etwas zu sein.
„Ich mcöhte acuh ein Tüfepelhcn hbaen.“, forderte sie einen Punkt ein, der etwas Unverwechselbarem aus ihr machte.
„Du besitzt es schon.“, entgegnete die Mutter.
„Du musst nur in den Spiegel blicken, um den Tüpfelchen zu finden.“
Das Fräulein „So-La-La“ fühlte sich nicht ernst genommen.
„Im Speigel shee ich nur mcih, wie ich mcih aus eniem Speigel anstrare.“, grunzte sie enttäuscht.
Voller Neid starrte sie auf das „i“, das sich wichtigtuerisch in Pose warf. Dem unscheinbaren Strich war seine Bedeutung buchstäblich in den Schoß gefallen.
Sie hatte gute Lust, die Zeichnung in kleine Papierfetzen zu zerreißen und in den Papierkorb zu werfen. In letzter Sekunde entschied sie sich anders.
Sie sprang vom Stuhl hoch und lief zum Kleiderschrank. An der Innenseite der Tür befand sich ein schmaler Spiegel.
Minutenlang beäugte sie jede Stelle an sich. Doch so sehr sie sich auch anstrengte. Nirgendwo konnte sie einen Punkt ausmachen , der ihr ein einzigartiges Tüpfelchen verlieh.
Das Spiegelbild lieferte den Beweis. Sie unterschied sich in nichts von anderen Grashalmen auf der Wiese. Sie war nichts Besseres als ein beliebiger Sonnenstrahl unter Millionen.
Die einzige Auffälligkeit, die sie im Spiegel sah, war ein beleidigter Schmollmund, der sich zu einem riesigen Hügel auftürmte. Die Gedanken in ihrem Kopf ächzten unter dem steilen Anstieg, der sich vor ihnen auftat. Gleichzeitig näherte sich ihre Laune dem Tiefpunkt.


Ein kleiner Punkt entschied darüber, ob man ein Jemand oder ein Niemand war. Und die eigene Mutter rührte keinen Finger, um ihr zu diesem Tüpfelchen zu verhelfen. Sie gefiel sich lieber schulmeisterlichen Reden.
„Der bölde Speigel ziegt nur mien dmumes Gesciht.“, bellte das Fräulein „So-La-La“ gereizt zurück.
Sie stampfte mit den Füßen. Ihr Gesicht färbte sich knallrot vor Wut über die Ungerechtigkeit, die man ihr zumutete.
„Es braucht keinen Stift, der dir einen Punkt über den Kopf malt. Wie du dich selbst siehst, macht dein Tüpfelchen aus. Unter tausenden Mädchen, die gleichzeitig aus einem Spiegel lachen, wirst du dich daran erkennen.“
Die Worte der Mutter lösten einen ohrenbetäubenden Knall im Kopf des Fräuleins „So-La-La“ aus. Nachdem sich der Rauch verzogen hatte, war die Welt eine andere geworden.
Von einem Augenblick zum nächsten strahlte ihr Dasein um ein Vielfaches heller, als es einem kleinen Buchstaben vergönnt war.
Wie hatte sie so blind sein können?
Jedes einzelne Haar an ihr zählte unermesslich mehr als der mickrige Strich auf dem Papier, der sich einbildete wichtig zu sein, weil ein Punkt über ihm schwebte.
Es war nicht seine Entscheidung gewesen, ein Buchstabe zu sein. Ohne die Hand ihrer Mutter wäre er ein unbedeutender Grashalm unter vielen oder ein verirrter Sonnenstrahl unter Abermillionen geblieben.
Anders als ein Strich auf einem Blatt Papier konnte sie über ihre Bestimmung selbst entscheiden.
„Wnen ich mcih vor den Speigel stlele, entshciede ich, wer mcih daraus anseiht.“, platzte es aus ihr heraus.
Ob ihr dabei zum Lachen oder zum Weinen zumute war. Ob sie sich hässlich oder schön fühlte. Ob sie einen Jemand oder einen Niemand in ihrem Spiegelbild erkannte. Nicht der Stift bestimmte ihren Stellenwert. Es war ihre eigene Entscheidung, wie sie aus dem Spiegel in die Welt blickte.
Noch am gleichen Tag hielt das Fräulein „So-La-La“ einen Zeichenblock in der doppelten Größe in Händen.


Mit fabrikneuen Malstiften ausgestattet, schuf sie Meisterwerke, deren Ausmaße alle bisherigen Bilder in den Schatten stellten.
Nie wieder stieß ein Hals unsanft an das Blattende, wenn er sich aus dem Kartoffelsack strampelte. Voller Stolz streckte er sich dem prächtigen Tüpfelchen entgegen, das über ihm schwebte. Der luftballongroße Kopf trug unverkennbar die Züge eines Mädchengesichtes, in dem sich das Glück schaukelte.
Für die Sonne, die aus der Ecke strahlte, rührte das Fräulein „So-La-La“ ein kräftiges Gelb an, damit das Tüpfelchen in seiner ganzen Schönheit zur Geltung kam.
Den Punkt gefunden zu haben, der ihren Platz in der Welt bestimmte, erfüllte sie mit einer nie zuvor gekannten Schaffensfreude. Daran konnte auch der verrückte Clown, der in ihrem Mund sein Unwesen trieb, nichts ändern.
Einige der Zeichnungen, die besonders gut gelungen waren, schafften es sogar hinter Glas. In den prächtigen Bilderrahmen wirkten sie nicht weniger kostbar als die Gemälde, die in den Museen zu sehen waren.
Bedauerlicherweise war das Fräulein „So-La-La“ noch zu jung, um ihre Bilder in großen und menschenleeren Sälen an die Wand zu hängen. Also blieb der Mutter keine andere Wahl als zähneknirschend das Wohnzimmer zur Ausstellung der sonderlichen Kunstwerke zur Verfügung zu stellen.
Wenn ein Besucher die imposante Werkschau besonders genau in Augenschein nahm, beeilte sich der Vater das von den gestreckten Zeigefingern, hochgezogenen Augenbrauen und mitleidigen Stimmen gestreute Gerücht, bei den Bildern würde es sich um die Darstellung gefallener Mädchen handeln, im Keim zu ersticken.
„Das ist das Fräulein „So-La-La“, wie sie sich im Spiegel ansieht.“, sagte er.
Während die Mutter um ein verkrampftes Lächeln in ihrem leichenblassen Gesicht bemüht war, zog sich der Vater in die Küche zurück, wo er in schallendes Gelächter ausbrach.
Von derlei bekam die anwesende Künstlerin nichts mit. Sie übte sich in gespielter Bescheidenheit.
Das bin nur ich, wie ich mit mienem Tüfpelhcen in die Wlet lcahe.“, redete das Fräulein „So-La-La“ die Bedeutung ihrer Bilder klein.
In Wahrheit platzte sie fast vor Stolz, weil sie sich keinen schöneren Luftballonkopf auf ihrem Hals vorzustellen vermochte.
ENDE.