
7.) Buch
DIE GESCHICHTE…
wie das Fräulein „So-La-La“ ihre Mutter mit den aller- schlimmsten Fragen von den Beinen holt und ein Mundtotmacher sie zum Schweigen bringt

Für einen Zwerg lag das Ende der Welt nicht weiter entfernt als für einen Riesen. Der einzige Unterschied bestand darin, dass der Zwerg auf dem Weg dorthin mehr Schritte und bessere Schuhe benötigte als der Riese.
Dieser Gedanke tröstete das Fräulein „So-La-La“, wenn ihr Blick den schwarzen Strich auf dem Türstock ihres Zimmers streifte. Die Markierung, die mit ihr in die Höhe wuchs, hatte sich seit Monaten nicht von der Stelle bewegt.
Was viel schlimmer war. Sie konnte immer noch aufrecht unter dem Küchentisch stehen, ohne mit dem Kopf anzustoßen.
Mit einem luftballonrunden Kopf und dackelkurzen Beinen war es nicht leicht, in einer Welt zu bestehen, die den Wert der Dinge nach Länge und Breite maß. Dabei bedeutete Größe nicht alles.
Der Kopf, der dem Himmel am nächsten kam, saß auf dem Hals einer Giraffe. Trotzdem wusste sie nichts Besseres mit ihrer Aussicht anzufangen, als die Blätter aus den Baumkronen zu fressen.
Der Vogel, den die Giraffe aus seinem Nest aufscheuchte, wirkte im Vergleich zu ihr winzig klein. Aber sobald er seine Flügel ausbreitete, öffnete sich ein endloser Horizont vor ihm.
Was für Zwerge und Vögel galt, galt erst recht für sie, redete sich das Fräulein „So-La-La“ Mut ein.
Wenn es einem Zwerg gelang, mit kleinen Schritten bis ans Ende der Welt zu tippeln. Wenn es ein Vogel von der Größe eines Wollknäuels zustande brachte, über den Wolken zu segeln.
Dann war alles möglich.
Keineswegs spürte das Fräulein „So-La-La“ ein Verlangen danach, sich Blasen an die Füße zu laufen. Und nach ihrer Bruchlandung mit dem Besen der Großmutter war ihr auch die Lust am Fliegen verloren gegangen.
Ihr geheimer Traum war es, wie die Geschichten in den Büchern zu reisen. Sie umrundeten die Welt, ohne dabei eine einzige Schuhsohle abzuwetzen, oder in Gefahr zu geraten, aus dem Himmel zu fallen.


Die ersten Versuche mit dem Globus, der in der Dachkammer des Vaters verstaubte, verliefen vielversprechend.
Jedes Mal, wenn das Fräulein „So-La-La“ das Fernweh packte, versetzte sie ihm einen leichten Stoß, bis er sich um die eigene Achse zu drehen begann.
Mit dem Globus wurde das Verreisen geradezu zum Kinderspiel. Sobald das passende Reiseziel entdeckt war, schloss das Fräulein „So-La-La“ die Augen und tippte mit dem gestreckten Zeigefinger darauf.
Bevor ein Riese einen einzigen Schritt zurückgelegt hatte. Bevor ein Vogel seine Flügel ausgebreitet hatte, war sie in Gedanken schon dort.
Mit dem Finger auf dem Globus übersprang das Fräulein „So-La-La“ ganze Kontinente, schwamm durch riesige Ozeane oder kletterte auf die Spitze der höchsten Berge, ohne einen einzigen Schritt vor die Tür zu setzen.
Wie ihre Großmutter schlürfte sie morgens Kokosnüsse in Afrika. Mittags verspeiste sie Straußeneier in Australien. Abends aß sie Reis in China. Und pünktlich zum Abendessen kehrte sie in das Arbeitszimmer ihres Vaters zurück.
Bald hatte das Fräulein „So-La-La“ mit Hilfe ihres gelenkigen Zeigefingers jeden Ort der Welt erkundet.
Irgendwann begann es sie zu langweilen, von einer Sehenswürdigkeit zur nächsten zu hüpfen.
Sie fing an, die Dinge, denen sie bei ihren Reisen im Kopf begegnete, zu hinterfragen.
Wie viele Farbtöpfe waren nötig, um den Himmel anzumalen? Warum hatte man ihn blau gestrichen? Und wer malte den Himmel nach, wenn die Farbe abblätterte?
Wie waren die Sterne und Planeten am Himmel festgemacht? Waren sie geschraubt? Hatte man sie angenagelt? Oder waren sie aufgeklebt?
In dieser Tonart ging es endlos weiter. Das Fräulein „So-La-La“ wollte allerlei Seltsames wissen.
Wenn die Erde wie ein Karussellpferd um die Sonne raste. Warum wurde den Menschen nicht ständig schwindelig vor Augen?
Wenn sie rund wie eine Kugel war. Warum blickte man allen Stellen zum Himmel hoch und nirgendwo hinunter?
Wenn sie zu bereits zu zwei Drittel unter Wasser stand und die Ozeane die Küsten überfluteten. Warum drehte niemand den Wasserhahn ab, bevor es zu spät war?
Und wenn es genug Zeit aber zu wenig Platz auf der Welt gab. Warum lebten die Menschen nicht besser hintereinander als nebeneinander, wo sie sich gegenseitig auf die Füße traten und die Köpfe blutig schlugen?


Als wäre es nicht schon Plage genug, einen verrückten Clown im Mund spazieren zu tragen, lieferten die Fragen willkommenen Stoff für zusätzliches Gerede.
Kein Tag verging, ohne dass sich die gestreckten Zeigefinger, hochgezogenen Augenbrauen und mitleidigen Stimmen abfällig zu Wort meldeten und ärztlichen Beistand empfahlen.
Es dauerte nicht lange, bis das Getuschel der Mutter zu Ohren kam. Der Knall, mit dem ihr Geduldsfaden explodierte, übertönte jeden Kanonendonner um das Tausendfache.
„Die einzige Spritze, die es braucht, ist eine Giftspritze, die Dummköpfe zum Schweigen bringt.“, drohte sie den Lästermäulern eine schmerzhafte Behandlung an.
„Nicht die Frage entlarvt die Dummheit, sondern die Antwort.“, schoss der Vater der flüchtenden Meute eine Breitseite hinterher.
Gemeinsam verteidigten sie ihre Tochter mit Zähnen und Klauen. Mit tosendem Beifall beklatschten sie jede noch so seltsame Frage aus ihrem Mund. Je ungewöhnlicher sie klang, desto stürmischer jubelten sie. Im Stille sehnten sie jedoch den Tag herbei, an dem die Plage ein Ende fand.
Das Gegenteil trat ein. Es wurde täglich schlimmer.
„Wraum targen sie enien Blal auf irher Nsae spzaieren?“, fragte das Fräulein „So-La-La“ die Putzfrau, der sie im Stiegenhaus begegnete.
Die arme Frau, deren Gesicht durch eine riesige Warze auf der Nase verunstaltet wurde, funkelte die Fragestellerin, die erwartungsvoll auf Antwort hoffte, böse an.
„Auch eine gestotterte Frechheit bleibt eine Frechheit.“, empörte sie sich und zog die Augenbrauen in die Höhe.
Bei einer medizinischen Untersuchung erregte das Doppelkinn des Arztes die Aufmerksamkeit des Fräuleins „So-La-La“.
„Wraum wcähst Inhen ein Buach im Gesciht?“, erkundigte sie sich neugierig nach der Ursache über den Makel in seiner Erscheinung.
„Allerschlimmste Sprachstörungen.“, lautete seine beleidigte Diagnose, die er mit gestrecktem Zeigefinger in den Computer tippte.
Als das Auto der Mutter zur Reparatur in die Werkstätte musste, sorgte sie sich beim Anblick der ölverschmierten Hände um die Körperpflege des Mechanikers.
„Wraum bdaet Sie irhe Mtuter nicht mher?“, vermutete sie familiären Streit als Ursache für die Vernachlässigung seiner äußeren Erscheinung.
„Deine Zunge stottert schlimmer als dieser Motor.“, verhöhnte sie die mitleidige Stimme des Mechanikers.


Die Reihe der Demütigungen setzte sich endlos fort. Über viele Tage und Wochen erstickte das Fräulein „So-La-La“ ihren Kummer heimlich in der Bettdecke.
Eines Nachts entlud sich über dem Dach des Hauses ein Gewitter. Die grellen Blitze tauchten das Zimmer in ein gespenstisches Licht.
Als ein gewaltiger Donner den Himmel erschütterte, sprang ein Zahnrad im Kopf des Fräuleins „So-La-La“ im Schreck an die falsche Stelle. Die unabsichtliche Vierteldrehung löste eine verhängnisvolle Kettenreaktion aus.
Schlagartig versiegte das Tränenmeer in ihren Augen. Mit klarem Blick starrte sie in das nächtliche Wetterleuchten, das sich vor dem Fenster abspielte. Das Lächeln auf ihren Lippen gefror zu Eis.
Die Puppe, die mit ihr das Bett teilte, erfuhr als erste von dem Verhängnis, das unaufhaltsam auf die Welt zurollte.
„Ich quläe sie mit Fargen, die sie nciht beantorwten knönen.“, entfuhr es dem Fräulein „So-La-La“ laut, dass sie an der eigenen Stimme erschrak.
In ihren Ohren echote schon das Gewinsel, mit dem die hochgezogenen Augenbrauen, gestreckten Zeigefinger und mitleidigen Stimmen um Gnade flehten.
Ein Blitz, der direkt vor dem Fenster in eine Stromleitung einschlug, lieferte die unheilvolle Melodie dazu.
Die Wirklichkeit der nächsten Tage bot ein anderes Bild. Zum Entsetzen des Fräuleins „So-La-La“ verfehlten die ersten Fragen die hochgesteckten Erwartungen.
Anstelle Angst und Panik zu verbreiten, ernteten sie überschwänglichen Beifall. Die gestreckten Zeigefinger, hochgezogenen Augenbrauen und mitleidigen Stimmen sahen keinerlei Veranlassung, Reißaus zu nehmen. Im Gegenteil sonnten sie sich in hochtrabenden Antworten.
Was als Vergeltung für die tagtäglichen Demütigungen geplant war, geriet zur leichten Unterhaltung.


Niemand kam auf die Idee, den Abgrund zu beleuchten, der hinter den Fragen lauerte. Wochenlang wurde das Fräulein „So-La-La“ als Wunderkind herumgereicht. Wildfremde Menschen klopften ihr auf die Schulter und beglückwünschten sie.
„Die Neugier hat sie von mir geerbt.“, schmückte sich die Mutter mit falschen Lorbeeren.
„Die väterliche Handschrift ist unverkennbar.“, rühmte sich der Vater.
Viel zu spät begriffen sie das Ausmaß der Katastrophe, die sich vor ihren Augen zusammenbraute.
Als die Wissbegierigkeit des Fräuleins „So-La-La“ jedes vernünftige Maß sprengte, wurden erste Bedenken laut, von welcher Art dieses Wunderkind war.
„Ich wundere mich jeden Tag etwas mehr über sie.“, plagten die Mutter erste Zweifel über die tatsächlichen Absichten ihrer Tochter.
„Ihre Neugier erinnert zunehmend an eine Heuschreckenplage.“, stöhnte der Vater angesichts der unaufhörlichen Flut an Fragen.
Währenddessen verlor Fräulein „So-La-La“ nie das eigentliche Ziel aus den Augen. Nacht für Nacht brütete sie an der Verbesserung der allerschlimmsten Fragen.
Je mehr sich ihre Spötter daran belustigten, umso verbissener feilte sie an ihnen. Sie gab sich nicht eher zufrieden, bis die Schärfe einer Rasierklinge aus ihnen blitzte.
Nach Tagen und Wochen verbuchte sie erste kleine Erfolge. Die mühselige Nachtarbeit begann sich bezahlt zu machen.
„Solche Fragen stellt man nicht.“, kapitulierte eine zuckende Augenbraue.
„Diese Antwort eignet sich nicht für Kinderohren.“, räumte ein geknickter Zeigefinger das Feld.
„Ich habe die Frage nicht verstanden.“, stellte sich eine wehleidige Stimme dumm, um ihre Niederlage zu verbergen.
Solche Antworten schmeckten dem Fräulein „So-La-La“ süß wie Honig. Aber ihr Hunger nach Vergeltung war noch lange nicht gestillt. Sie hatte Größeres im Sinn. Anfangs bestand zwischen den einzelnen Fragen keinerlei Zusammenhang. Nach den ersten Erfolgen ging sie daran, ihren Plan um einen ausgeklügelten Hinterhalt zu verfeinern.


Mit einer einfachen Erstfrage schaffte sie Vertrauen. Wenn sich das ahnungslose Gegenüber gönnerhaft zu einer Antwort herabließ, stieß sie mit einer Hauptfrage in die offene Flanke.
Sobald das Opfer in hilfloses Stottern verfiel, schickte das Fräulein „So-La-La“ die furchtbarste ihrer Waffen in den Kampf.
Mit dicht gestaffelten Nachfragen streckte sie den taumelnden Gegner nieder. Es folgte eine Zeit großartiger Triumphe.
Das Fräulein „So-La-La“ genoss den Anblick der blassen Gesichter der gestreckten Zeigefingern, hochgezogenen Augenbrauen und mitleidigen Stimmen, wenn sie inmitten hochtrabender Antworten von einer Hauptfrage überrascht wurden.
Während sich ihre leichtfüßigen Antworten zu einem schwerfälligen Gestammel verformten, setzte sie mit der Ruhe eines kalten Herzens zum entscheidenden Schwinger an.
Mitleid war ihr fremd. Ihre gequälte Seele duldete keine Gefühlsduselei. Viel zu lange hatte sie die Demütigungen ihrer Peiniger ertragen müssen.
Aber der Preis für ihre Siege war hoch bezahlt.
Als eine Supermarktkassierin unter einer Welle von Nachfragen ohnmächtig von ihrem Stuhl kippte, verhängte die Mutter einen mehrtägigen Hausarrest.
Der Schwächeanfall einer Putzfrau im Stiegenhaus kostete sie das Opfer eines dreiwöchigen Fernsehverbotes. Und als sie der Kinderarzt unter lautstarken Vorhaltungen aus der Ordination warf, musste sie bis Jahresende auf Schokoriegeln und andere Naschereien verzichten.
Aber die Strafen schreckten das Fräulein „So-La-La“ nicht davon ab, ihre Rache weiter auszukosten. Mit kaltblütiger Präzision teilte sie die Schläge gegen ihre Widersacher aus.
Im Siegesrausch hatte sie keinen Blick für den Schatten, der ihr Leben langsam verdunkelte.
Die Menschen begannen, einen weiten Bogen um sie zu schlagen. Die anfängliche Begeisterung über das vermeintliche Wunderkind schlug in Furcht und Schrecken um. Eine nie gekannte Stille breitete im Haus aus. Zu den ersten Leidtragenden dieser Entwicklung zählten die Eltern des Fräuleins „So-La-La“.


Nach außen weinten sie den gestreckten Zeigefingern, hochge-zogenen Augenbrauen und mitleidigen Stimmen keine Träne hinterher.
„Sollen sie Steuern zahlen müssen für ihre Dummheit.“, giftete ihnen die Mutter nach.
„Mögen sie selbst mit solchen Töchtern gesegnet sein.“, wünschte ihnen der Vater gar Schlimmeres an den Hals.
Freunde und Nachbarn, die zum Essen ins Haus geladen wurden, benötigten Nerven aus Stahl, um ein dreigängiges Menü durchzustehen.
Die ersten Gäste flohen bereits nach der Suppe. Die meisten ergriffen nach der Hauptspeisen unter fadenscheinigen Ausreden die Flucht.
Nur die Wagemutigsten hielten bis zum Dessert durch, ehe auch sie Reißaus nahmen. Oft blieben bei den überstürzten Aufbrüchen Mäntel, Jacken und Schuhe zurück.
Mit der Zeit häufte sich eine herrenlose Garderobe an, die niemand zurückforderte, weil die ehemaligen Besitzer das Risiko eines erneuten Besuches scheuten.
Als ein guter Freund der Familie nicht nur fluchtartig das Weite gesucht, sondern auch seine Telefonnummer geändert hatte, sprach der Vater ein Machtwort.
„So kann es nicht weiter gehen.“, donnerte er.
„Die Fragen müssen ein Ende haben.“
Um zu zeigen wie ernst es ihm mit dieser Forderung war, knallte er die Faust auf den Küchentisch. Mit zusammengekniffenen Augen fixierte er seine Tochter, die am Tisch mit ihrer Puppe spielte und tat, als ginge sie die Unterhaltung nichts an.
Unter Aufbringung all seiner Kräfte gelang es dem Vater, die Augenbrauen unten und den Zeigefinger krumm zu halten.
„Unsere Freunde meiden uns.“, tobte er, wobei er seine Hände hinter dem Rücken verbarg.
Seit Wochen hatte sich kein Besucher mehr über die Türschwelle gewagt.
Das Fräulein „So-La-La“ lächelte zufrieden in sich hinein. Die Gefährlichkeit ihrer Fragen hatte sich wie ein Lauffeuer durch die halbe Stadt gesprochen.
Die Mutter protestierte halbherzig.
„Die Fragen sind nichts weiter als der Unfug eines kleinen Mädchens mit einem verrückten Clown im Mund.“, spielte sie den Ernst der Lage herunter.


Der gequälte Ausdruck in ihrem Gesicht sagte etwas anderes. Trotz aller Liebe zu ihrer Tochter schmerzte sie die Einsamkeit, die sich im Haus ausbreitete.
„Ein Clown bringt die Leute zum Lachen. Er stellt sie nicht als dumme Vogelscheuchen zur Schau.“, fiel ihr der Vater ins Wort.
„Sie tut es nicht mit Absicht.“, hielt die mütterliche Verteidigung wider besseres Wissen dagegen.
Es war der Tropfen, der das Fass zum Überlaufen brachte. Das Gesicht des Vaters lief puterrot an.
„Ihre Fragen sind gefährlicher als ein Rudel hungriger Wölfe. Am Ende werden wir noch zusammen aus der Stadt gejagt.“, brüllte er.
Reflexartig schnellte seine rechte Hand hinter dem Rücken hervor. Der Zeigefinger zielte in gestreckter Haltung auf das Fräulein „So-La-La“. Seine Augenbrauen zuckten wie verrückt auf und ab. Die Nachlässigkeit sollte ihn teuer zu stehen kommen.
„Du bist nicht besser als die anderen.“, funkelte ihn die Mutter wütend an.
Da wurde dem Vater bewusst, welches Unglück er gegen sich heraufbeschworen hatte. Aus den Augenwinkeln bemerkte er wie das Fräulein langsam unter den Küchentisch glitt. Im Bruchteil einer Sekunde hatte sein Gesicht jede Farbe verloren. Kalter Schweiß glänzte auf seiner Stirn.
„Das wollte ich nicht.“, stammelte er und versteckte den gestreckten Zeigefinger hinter dem Rücken.
Kreidebleich starrte er die Mutter an. Dann drehte er sich um die eigene Achse und sprang zur Tür hinaus.
Einmal mehr hatte er es seinem empfindlichen Gehör, mit dem er eine Mücke auf hundert Meter husten hörte, zu verdanken, dass er mit heiler Haut davon kam.
Mit einem lauten Knall schlug die Küchentür hinter ihm ins Schloss. Gerade noch rechtzeitig, bevor das Fräulein „So-La-La“ den Kopf unter dem Küchentisch vorstreckte und ihm eine allerschlimmste Frage hinterherjagte.
Nun platzte auch der Mutter der Kragen. Mit einem lauten Knall riss ihr Geduldsfaden mitten entzwei.


„Deine schwarze Seele stürzt uns eines Tages alle ins Verderben.“, tadelte sie ihre Tochter.
Für einen Moment verlor sie die Kontrolle über sich und zog die Augenbrauen in die Höhe. Bestürzt über den unverzeihlichen Frevel, schlug sich die Mutter die Hände vor die Ohren.
„Erbarmen.“, flehte sie.
Aber es war bereits zu spät. Die Fragen des Fräuleins „So-La-La“ prasselten mit der Gewalt eines Zyklonsturms auf sie herein.
Wie durch ein Wunder überstand sie die erste Angriffswelle. Aber gegen die Wucht der nachfolgenden Attacke war sie chancenlos.
Eine dünne Rauchsäule, die aus ihren Ohren stieg, kündigte den Zusammenbruch an. Eifersüchtig blickte die Mutter auf die Puppe, die sich an die Brust des Fräuleins „So-La-La“ drückte. Ihr rosiges Gesicht strahlte fröhlich wie immer.
Noch nie hatte sie das leblose Wesen für seine Taubheit so beneidet als in diesem Augenblick.
Es war der letzte Gedanke, bevor sich der Boden unter ihren Füßen öffnete und ein schwarzes Loch sie verschlang.
Als sie die Augen wieder aufschlug, lag sie der Länge nach ausgestreckt auf dem Sofa im Wohnzimmer. Der Vater kniete vor ihr auf dem Boden und betupfte ihre Stirn mit einem nassen Tuch. Aus seinen Ohren ragten die Enden dünner Wattestäbchen.
„Sie lässt uns keine andere Wahl.“, schrie er gegen den Lärm des Fernsehapparates in seinem Rücken an.
Er hatte die Lautstärke bis zum Anschlag aufgedreht. Es war die einzig wirksame Waffe gegen die allerschlimmsten Fragen des Fräuleins „So-La-La“.
Die Unterhaltung zwischen ihnen bedurfte keiner Worte. Die Blicke, die sie tauschten, genügten, um zu wissen, was zu tun war.
Einige Minuten später schrillte in einer zigarrenverqualmten Wohnung ein altes Telefon mit einer gelochten Wählscheibe, die sich im Kreis drehte, wenn man eine Nummer wählte. Der Hörer, der auf der Gabel lag, ähnelte einem abgenagten Hundeknochen.
Es dauerte lange, bis es in der Leitung knackste und sich eine tiefe Stimme meldete. Der Vater schluchzte einen herzzerreißenden Appell ins Telefon.
Die Antwort der Stimme am anderen Ende der Leitung fiel knapp aus.
„Es bleibt nur ein Mittel, um der Plage ein Ende zu machen.“


Dem Vater fiel vor Schreck beinahe der Hörer aus der Hand.
Die Mutter starrte ihn angstvoll an.
„Müssen wir es tun?“, fragte sie mit tränenerstickter Stimme.
Der Vater nickte. Sein Gesicht war aschfahl.
Am nächsten Morgen stürzte die Mutter beim ersten Morgenlicht aus der Tür. Atemlos hetzte der Vater mit dem Mond im Aktenkoffer hinterher. Der hektische Aufbruch glich der Flucht aus einem brennenden Haus.
Nach wenigen Minuten stand der Vater wieder in der Tür. In der Aufregung war er in Socken auf die Straße gelaufen.
Sekunden später schlug die Glocke erneut an. Die Mutter hatte vergessen, sich die Lockenwickler aus den Haaren zu drehen.
Das Fräulein „So-La-La“ beobachtete das seltsame Geschehen vom Frühstückstisch aus. Sie schlürfte heiße Schokolade aus einer Tasse und genoss den Duft der Frühstücksbrote, der ihre Nase umspielte.
„Ist es weider enier deiser Notfläle?“, erkundigte sie sich scheinheilig, als die Haustür hinter der davoneilenden Mutter ins Schloss schlug.
Die Frage richtete sich an die füllige Gestalt, die in einem smaragdgrünen Kleid auf der anderen Seite des Tisches saß.
Oma Rosa blickte ungerührt von ihrer Zeitungslektüre hoch. Das schwere Gestell der Hornbrille drückte auf ihre Nasenspitze. Die Spitze der Zigarre, die zwischen ihren Lippen steckte, glühte feuerrot.
Ihre versteinerte Miene verhieß wenig Gutes. Der gestreckte Zeigefinger ihrer rechten Hand fuhr dem Fräulein „So-La-La“ direkt unter die Nase.
„Dieses Mal ist es einer von der übelsten Sorte.“, brummte sie und zog die Augenbrauen hoch.
Ohne dem etwas hinzuzufügen, beendete sie die Unterhaltung und widmete ihre Aufmerksamkeit wieder dem Chronikteil der Zeitung.
„Worum ghet es?“, heuchelte das Fräulein „So-La-La“ Interesse vor, um ihr Opfer in Sicherheit zu wiegen.


„Allerschlimmste Fragen.“, antwortete die Großmutter mit mitleidiger Stimme.
„Ach ja.“, spielte das Fräulein „So-La-La“ weiter die Ahnungslose.
Zugleich leitete sie ihren Angriff mit einer Frage ein, die bei einer Supermarktkassierin zum Erfolg geführt hatte.
Zu ihrer Überraschung zeigte die Großmutter keinerlei Anzeichen eines beginnenden Nervenzusammenbruches. Seelenruhig rückte sie das Brillengestell auf ihrer Nase zurecht.
Der Blick in ihren Augen ließ dem Fräulein „So-La-La“ das falsche Lächeln auf den Lippen gefrieren. Oma Rosa saß nicht zum Frühstücksplausch am Tisch.
Die Alarmglocken in ihrem Kopf läuteten Sturm. Ohne Vorwarnung feuerte sie eine Salve ab, die ihren Kinderarzt für zwei Tage außer Gefecht gesetzt hatte.
In dieser Phase fingen die Opfer an, sich die Hände an die Ohren zu pressen oder die Kopfhörer ihrer Mobiltelefone bis zum Anschlag aufzudrehen.
Die Großmutter zeigte sich dagegen völlig unbeeindruckt. Die Fragen perlten an ihr ab wie Regentropfen an einer Fensterscheibe. Sie bekam weder Schweißperlen auf der Stirn. Noch begannen ihre Hände zu zittern.
Ohne eine Miene zu verziehen, las sie sich durch den Sportteil der Zeitung. Nun dämmerte dem Fräulein „So-La-La“ der Ernst der Lage. Oma Rosa hatte sich noch nie für Sport interessiert.
In Panik plauderte sie sich durch ihr gefürchtetes Arsenal an allerschlimmsten Fragen. Es war, als würde sie mit Platzpatronen auf einen heranstürmenden Elefantenbullen schießen. Eine Frage nach deren anderen verpuffte, ohne dass sie an der Großmutter die geringste Wirkung erzielten.
Einmal keimte kurz Hoffnung auf, als sie einen mitleidigen Stoßseufzer ausstieß. Aber anstatt um Gnade zu flehen, blickte die Großmutter mit hochgezogenen Augenbrauen von ihrer Zeitungslektüre hoch, während sie mit gestrecktem Zeigefinger auf die nächste Seite blätterte.
„Sagtest Du etwas?“, fragte sie mit mitleidiger Stimme.
Das Fräulein „So-La-La“ begann unruhig auf ihrem Platz hin und her zu wetzen. Nervös stopfte sie sich eines der Frühstückstöpfchen in den Mund, ohne es genauer in Augenschein zu nehmen. Ein unverzeihlicher Fehler wie sich rasch herausstellen sollte.


Explosionsartig quoll der Bissen zwischen ihren Zähnen zu einem zähen Brei auf.
Mit Kauen und Spucken versuchte das Fräulein „So-La-La“, ihn wieder los zu werden. Aber je mehr sie dagegen ankämpfte, desto verheerender entfaltete sich seine Wirkung.
Binnen weniger Sekunden hatte sich der Breiklumpen in ihrem Mund zu einer klebrigen Masse verfestigt, ihre Kiefer zusammenpresste.
„Mpfmpfmpf.“, stöhnte das Fräulein „So-La-La“.
So sehr sie sich auch abmühte. Sie brachte keinen Ton mehr über die Lippen.
Die Großmutter blickte von ihrer Zeitung hoch. Ungerührt paffte sie eine dicke Rauchwolke aus ihrem Mund.
„Wer allerschlimmste Fragen austeilt, muss mit ebensolchen Antworten rechnen.“, kommentierte sie das Geschehene trocken.
Nun wurde dem Fräulein „So-La-La“ . Er war Teil eines hinterhältigen Komplotts gegen sie.
Ihr Blick schwenkte zu dem Teller hinüber, auf dem sich die Frühstücksbrötchen stapelten.
„Mpfmpfmpf.“, rumorte es in ihrer Kehle.
Unter einer hauchdünnen Schicht aus Schokolade versteckt, glänzte eine zentimeterdicke Zuckersoße.
Inzwischen fühlte der Brei in ihrem Mund fest wie Beton an.
Der Kopf des Fräuleins „So-La-La“ senkte sich gefährlich nach vorne.
„Mpfmpfmph.“, stöhnte sie erneut.
Was damit gemeint war, ließ sich deutlich in ihrem Gesicht ablesen. Es war die unverhohlene Drohung, ihrem Gegenüber mit den Fingernägeln das Gesicht blutig zu kratzen. Wenn es eine Möglichkeit dazu gegeben hätte.
Denn der Brei in ihrem Mund drückte sie tonnenschwer in den Stuhl hinein.


Der allerschlimmsten Fragen beraubt, entlud sich der Zorn des Fräuleins „So-La-La“ an dem Geschirr auf dem Tisch. Mit wütenden Armbewegungen fegte sie den Rest der Frühstücksbrötchen samt Teller auf den Boden.
Die Großmutter blickte sie über die Brille an. Nach einem kurzen Kopfschütteln widmete sie ihre Aufmerksamkeit wieder der Lektüre ihrer Zeitung.
Nachdem sie sich bis zur letzten Seite durchgelesen hatte, faltete sie die Zeitung zusammen und nahm das Brillengestell von der Nase.
Unendliche Minuten vergingen, ohne dass ihr ein Wort über die Lippen kam.
„Der Mundtotmacher verfehlt niemals seine Wirkung.“, grinste sie sich vor Schadenfreude die Lippen bis zu den Ohren breit.
„Wer seine eigene Mutter mit allerschlimmsten Fragen von den Beinen zu holen, hat eine Strafe wie diese verdient.“
Als würde sie über ein harmloses Rezept plaudern, erzählte sie dem Fräulein „So-La-La“ von dem Mundtotmacher als bewährtes Mittel, um lästige Plappermäuler zum Schweigen zu bringen.
„Seine Zutaten wechseln ständig. Aber das Ergebnis bleibt stets das gleiche.“
„Mpfmpfmpf“, bestätigte das Fräulein „So-La-La“ unfreiwillig die Wirkung der aktuellen Rezeptur.
In ihren Gedanken herrschte ein wildes Durcheinander, in dem Wut und Verzweiflung einander abwechselten.
Die Nachricht von ihrer Niederlage würde sich wie ein Lauffeuer unter den hochgezogenen Augenbrauen, gestreckten Zeigefingern und mitleidigen Stimmen verbreiten. Für einen Moment glaubte sie, ihr höhnisches Gelächter zu hören. Aber es war nur die Stimme der Großmutter, die im schneidenden Ton eines Scharfrichters zur Urteilsverkündung schritt.
„Es wird Zeit, die Unruhestifter zur Vernunft zu bringen, bevor sie noch mehr Unheil anrichten.“
Die Großmutter bückte sich nach ihrer Tasche und kramte ein Paar Gummihandschuhe daraus hervor, die sie langsam über ihre Finger streifte.
Der Anblick ließ das Fräulein „So-La-La“ erschaudern.
Es bestand kein Zweifel, welches Strafmaß sie erwartete.
Der Mundtotmacher hatte den verrückten Clown in ihrem Mund zum Schweigen gebracht. Nun ging die Großmutter daran, ihn endgültig zu beseitigen.
Bei dem Gedanken, für den Rest ihres Lebens stumm wie ein Fisch zu sein, explodierte ein Sternenregen vor ihren Augen. Ein erlösendes Dunkel überflutete sie und löschte alle Sinne aus.


Den dumpfen Schlag, mit dem ihr Kopf auf die Tischplatte prallte, spürte sie nicht mehr.
Als sie mit einem schmerzhaften Pochen an der Stirn aufwachte, war die Operation bereits im vollen Gang.
Die Großmutter stand am anderen Ende des Tisches. Sie trug einen blauen Kittel über ihrem smaragdgrünen Kleid. Ihre rote Mähne war unter einem Haarnetz verschwunden. Der blanke Stahl des Schraubendrehers, den sie in ihrer Rechten hielt, blitzte im gleißenden Licht eines Scheinwerfers.
Wild mit den Armen fuchtelnd, versuchte das Fräulein „So-La-La“ auf sich aufmerksam zu machen. Die Großmutter hob kurz die Augen und blickte durch sie hindurch, als hätte sie sich in Luft aufgelöst. Dann widmete sie sich wieder ihrer Arbeit.
Nun wurde das Fräulein „So-La-La“ auf ein Mädchen aufmerksam, das der Länge nach auf dem Tisch lag.
Der Schrei, der sich aus ihrer Kehle löste, zerschellte an dem Mundtotmacher, der jeden Ton schluckte.
Das Mädchen, an der sich die Großmutter zu schaffen machte, war sie selbst. Alles stimmte bis ins kleinste Detail. Die kurzen Stummelbeine. Die rotblonden Haare. Die Sommersprossen auf der Nase.
Nun begriff sie, was geschehen war. Der Schlag auf den Kopf hatte sie in einen Geist verwandelt.
Es hatte auch Vorteile, durchsichtig wie Luft zu sein. Man brauchte keine Füße, um sich zu bewegen. Vorsichtig schwebte das Fräulein „So-La-La“ auf die andere Tischseite, um die Operation an sich aus nächster Nähe zu verfolgen.
Nachdem die Großmutter ihren Kopf mit einer Schraubzwinge fixiert hatte, kämmte sie die Haare entlang des Mittelscheitels zurück.
An der frei gelegten Stelle kam ein dunkles Muttermal mit einer kreuzförmigen Einkerbung zum Vorschein.
Die Großmutter setzte den Kreuzdreher in der Mitte der Kerbe an und setzte ihn eine Umdrehung nach links. Ein lautes Klacken ertönte. Die Schädeldecke sprang in Höhe der Stirn auf und gab den Blick auf einen komplizierten Mechanismus frei. Staunend blickte das Fräulein „So-La-La“ auf das aus tausenden kleinen Zahnrädern bestehenden Räderwerk in ihrem Kopf.
Die Großmutter verschwendete keine Zeit. Entschlossen ging sie ans Werk. Sie wuchtete und schraubte. Sie hämmerte und klopfte.


Die Operation verlief, ohne einen Tropfen Blut zu vergießen.
Mit wenigen Handgriffen drang die Großmutter bis zum Kern der Apparatur vor. Ihrem geschulten Auge entging nichts. Schnell hatte sie den Fehler entdeckt und beseitigt.
„Da haben wir den Übeltäter. “, jubelte sie und streckte ihren gebeugten Rücken durch.
Zwischen Daumen und Zeigefinger ihrer linken Hand glänzte ein spitzzackiges Zahnrad in der Größe einer Stecknadel.
Nun brauchte es nur noch einen Schraubenschlüssel, um die Lücke zu schließen, die seine Entfernung hinterlassen hatte.
Ein Probelauf bestätigte den Erfolg ihrer Operation. Schon beim ersten Startversuch setzte sich die Apparatur mit einem wohlklingenden Summen in Bewegung. Kein lästiger Zwischenton störte mehr die Harmonie der Maschine.
Die Großmutter klappte die Schädeldecke zu und zog die als Muttermal getarnte Schraube wieder fest.
Nirgendwo blieb eine Schramme zurück. Bis auf einen kleinen Tropfen Öl, der an einer Haarsträhne glänzte, wies nichts auf die folgenschwere Operation hin.
Sichtlich zufrieden mit dem Ergebnis ihrer Arbeit streifte die Großmutter die Handschuhe ab.
„Ein Gedanke, der an die falsche Stelle gerutscht ist, hat das Räderwerk durcheinander gebracht. Nun läuft es wieder rund in ihrem Kopf.“
Das Fräulein „So-La-La“ blickte sich um. Mit wem sprach die Großmutter? Außer ihnen befand sich niemand im Raum.
„Mpfmpfmpf.“, meldete sie sich zu Wort.
Aber die Großmutter nahm keine Notiz von ihr. Wie sollte sie auch? Sie war immer noch ein Geist.
„In den meisten Fällen erweist es sich zweckmäßig, den Unruhestifter zu entfernen, bevor er größeren Schaden anrichtet.“, setzte die Großmutter die ungewöhnliche Unterhaltung mit sich selbst fort.


Während sie die Details der Operation schilderte, flutschte ihr das Zahnrad aus den Fingern. Es fiel zu Boden und rollte dem Fräulein „So-La-La“ direkt vor die Füße.
Fasziniert betrachtete sie das kleine Metallstück. Tausend Dinge schossen ihr gleichzeitig durch den Kopf.
Unvermittelt tauchten die Gesichter der Könige, Präsidenten und Generäle aus den Nachrichten vor ihren Augen auf.
Mit ausgestreckten Zeigefingern standen sie in der ersten Reihe. Mit hochgezogenen Augenbrauen blickten sie über die Köpfe der Menschen. Mit mitleidigen Stimmen bestimmten sie über das Schicksal der Welt.
Der Pomp ihrer Fahnen und Parolen verstellte dem Fräulein „So-La-La“ nicht länger den Blick auf die Werkzeugkiste, die sie mit sich trugen.
Die Welt war in die Händen von Mechanikern geraten, die unablässig schraubten, schmierten und demontierten.
Tanzte ein Gedanke unbequem aus der Reihe, drehten sie daran, bis er sich wieder einfügte. Wurde eine Idee zu laut, schmierten sie das lästige Geräusch leise. Und bewegte sich ein Zahnrad in die falsche Richtung, entfernten sie es kurzerhand.
Irgendjemand musste die Menschen vor den Machenschaften der Mechaniker warnen, empörte sich das Fräulein „So-La-La“.
Fest entschlossen, es selbst zu tun, setzte sie zu einer Rede an, welche die Welt wachrütteln würde. Da trompete ihr eine aufgeregte Stimme ins Ohr. Und alles was ihr auf der Zunge gelegen hatte, war vergessen.
„Wach auf, mein armes Mädchen.“
Im nächsten Augenblick klatschte dem Fräulein „So-La-La“ ein nasser Lappen ins Gesicht.
„Mpfmpfmph.“, prustete sie.
Die Großmutter kniete in ihrem smaragdgrünen Kleid vor ihr und blickte sie mit großen Augen an.
Überglücklich kein Geist mehr zu sein, schlang das Fräulein „So-La-La“ die Arme um ihren Hals.
Nachdem sie sich von ihrem Schrecken erholt hatte, schilderte sie in allen Einzelheiten die Operation, deren Augenzeuge sie geworden war.
Dabei schielte sie angsterfüllt auf die Handschuhe, welche die Großmutter unauffällig in ihrer Tasche verschwinden ließ.
Oma Rosa lachte herzhaft auf.
Niemals würde sie es wagen, ungefragt im Kopf eines Mädchens herumzubohren, leugnete sie jeden Zusammenhang.
Glaubhaft versicherte sie, die Handschuhe lediglich dazu verwendet zu haben, um die klebrigen Überreste der Brötchen aus dem Teppich zu kratzen.
Am Ende glaubte auch das Fräulein „So-La-La“ einem Hirngespinst aufgesessen zu sein.


Nur die Beule an der Stirn war echt.
Nachdem die Großmutter die Schwellung mit einer Salbe versorgt hatte, träufelte sie einige Tropfen aus dem Fläschchen, das sie zur Verfeinerung ihres Kaffees stets bei sich trug, auf die Lippen des Fräuleins „So-La-La“.
„Nichts lässt steife Zungen gesprächiger werden als ein bisschen Likör.“, behauptete sie.
Die Wirkung stellte sich sofort ein. Die scharfe Tinktur brannte sich wie eine Feuerwalze durch den steinharten Mundtotmacher. Binnen weniger Augenblicke zerschmolz er zu einem zuckersüßen Karamellbrei. Mit einem lauten Knirschen löste sich die Kinnlade aus ihrer Versteinerung.
Noch etwas benommen erwachte auch die Zunge zu neuem Leben.
Erleichtert spuckte das Fräulein „So-La-La“ die Überreste des Muntermachers auf einen Kuchenteller.
Eine Stunde später saß sie in eine warme Decke eingepackt am Frühstückstisch und leckte vorsichtig an einem Kuchenstück. Zu sehr saß ihr noch der Schreck über das Erlebnis mit dem Mundtotmacher in der Knochen.
Oma Rosa stand am Herd und kochte frischen Tee.
Der Likör aus dem Fläschchen hatte ihre Zunge gesprächig werden lassen. Nach etlichen Kostproben gestand sie dem Fräulein „So-La-La“, wie es geschafft hatte, die Attacken ihrer allerschlimmsten Fragen abzuwehren.
„Manchmal hat es sein Gutes, nicht alles hören zu müssen.“, schmunzelte sie und strich sich die Haare zurück.
In ihren Ohren steckte ein winziger Apparat.
„Das Hörgerät besitzt eine Ausschalttaste. Damit richten selbst die allerschlimmsten Fragen keinen Schaden an.“
Beschämt senkte das Fräulein „So-La-La“ den Kopf. Hoch und heilig schwor sie, ihre Mutter nie wieder von den Beinen zu holen. Wobei das Versprechen nicht für die hochgezogenen Augenbrauen, gestreckten Zeigefinger und mitleidigen Stimmen galt.


Im Stillen hatte sie bereits mit den Vorbereitungen für eine neue Attacke begonnen. Merkwürdigerweise konnte sich an keine einzige ihrer allerschlimmsten Fragen mehr erinnern.
Während sie ihr Gedächtnis auffrischte, stach ihr ein Metallstück ins Auge, das unter dem Tisch auf dem Boden lag.
Sie hob es auf und drehte es zwischen ihren Fingern. Es war ein feingezacktes Zahnrad von der Größe einer Stecknadel.
Blitzschnell sprang die Großmutter an den Tisch und fischte es ihr aus der Hand, um es sogleich in den Tiefen der Handtasche verschwinden zu lassen.
„Ach, das ist nur ein Stück Blech.“, bemühte sie sich um einen gelassenen Ton.
Das Fräulein „So-La-La“ wollte laut aufschreien. Aber das Kuchenstück in ihrem Mund hinderte sie daran.