
9.) Buch
DIE GESCHICHTE…
wie das Fräulein „So-La-La“ Captain Feelgood begegnet und dem schlimmsten aller Feinde ins Auge blickt

Eines Morgens machte das Fräulein „So-La-La“ im Spiegel eine schreckliche Entdeckung. Ihr Gesicht hatte sich über Nacht in eine unansehnliche Baustelle verwandelt. Jeder Blick in den Spiegel offenbarte neue Scheußlichkeiten.
Die hässliche Fratze, die sie daraus anstarrte, glich dem Fehlerbild des Bilderrätsels in der Zeitung ihres Vaters. Wobei sich dort die Anzahl der versteckten Fehler an den Fingern einer Hand abzählen ließ.
„Wnen es bloß so wneige wräen.“, seufzte das Fräulein „So-La-La“ unglücklich.
Je länger sie das Spiegelbild betrachtete, umso abscheulicher fand sie es.
Das Gewicht des melonenförmigen Kopfes hatte den Hals zu wulstigen Ringen zusammen gestaucht. Ihre rote Mähne war zu einem rotbraunen Gestrüpp verfilzt, das auf einen erlösenden Kahlschlag wartete.
Im selben Maß wie sich die Ohren zu riesigen Schiffssegeln aufgebläht hatten, waren die Augen zu vertrockneten Rosinen geschrumpft. Und wo einstmals eine zarte Stupsnase ihren Platz gehabt hatte, ragte nunmehr ein wuchtiger Schornstein empor.
Am Schlimmsten hatte es ihr Lachen getroffen. Wenn sie den Mund öffnete, boten die Zahnlücken, die dahinter zum Vorschein kamen, das schaurige Bild einer Ruinenlandschaft.
Das Fräulein „So-La-La“ stieß einen verzweifelten Schluchzer aus. Nichts an ihr war, wie es sein sollte.
Was den knochendürren Schultern an Masse fehlte, gedieh am Bauch im Überfluss. Die Finger waren fette Würste und die Oberschenkel dicke Schinken. Obendrein hatte sie das Schicksal mit den langen Armen eines Gorillas und den kurzen Beinen eines Dackels gestraft.
Ob sie sich in Posen warf oder ihr schönstes Lächeln in die Waagschale warf. Hartnäckig widersetzte sich das Spiegelbild allen Schönheitsidealen.
Die Bürsten und Kämme fochten einen aussichtslosen Kampf. Der Versuch, seine unzähligen Fehler mit den Lippenstiften und Make-up-Cremen aus dem mütterlichen Schminkkoffer auszubessern, scheiterte am strengen Urteil des Vaters.


„Mit dieser Maske könntest du als Zirkusclown auftreten.“, erschrak er sich an dem mit Rouge und Wimperntusche zugeschmierten Gesicht.
Sofort brach das Fräulein „So-La-La“ in Tränen aus.
„Wnen es bolss so wräe. “, schluchzte sie herzzerreißend.
„Dnan msüste ich die hsäsliche Frtaze nicht lnäger im Speigel ertargen.“
Der Vater, der eine Mücke auf hundert Meter husten hören konnte, erkannte blitzschnell die Gefahr und räumte das Feld.
Mit einem schlecht gelaunten Clown, der zu viel Farbe im Gesicht aufgetragen hatte, über Schönheit zu reden, war ein Pulverfass, das jederzeit hochgehen konnte.
Die Mutter zeigte weniger Respekt. Von ihr setzte es rote Ohren und eine Woche Hausarrest. Die Standpauke, mit der sie den Verlust ihrer besten Salben, Make-ups und Lippenstifte beklagte, war im Strafmaß inbegriffen.
Während das Fräulein „ So-La-La“ den Hausarrest absaß, starrte sie voller Neid auf ihre Lieblingspuppe.
Die vertraute Freundin führte das sorgenfreie Dasein, das ihr nicht gegönnt war. Was kümmerte die Puppe eine Zahnlücke oder eine schiefe Nase?
Wie gering wog für sie ein abgerissener Arm oder ein gebrochener Fuß?
Ob auf ihrer Haut ein Fettfleck glänzte oder eine Naht geplatzt war. Für alles fand sich in der Puppenkiste des Puppendoktors das passende Ersatzteil.
Hatte sich eine Puppe zu dick gefressen, schnitt man den Stoff auf und nahm die überflüssige Füllung heraus. Im Handumdrehen passte die Glückliche wieder in ihre Sommergarderobe.
Und falls ihr Gesicht durch einen riesigen Zinken oder ein spitzes Kinn verunstaltet wurde, tauschte man den Kopf ohne viel Federlesen gegen einen funkelnagelneuen aus.
Wenige Handgriffe machten aus einer Fülligen eine Magere, verwandelten eine kurzhaarige Brünette in eine langhaarige Blondine und ließen eine Dackelkurzbeinige zu einer Gazellenlangbeinigen hochwachsen.
In ihrer Verzweiflung beschloss das Fräulein „So-La-La“, das Verfahren, das sich bei ihren Puppen bewährt hatte, selbst anzuwenden.
Als sie den Vater von ihrem Vorhaben erzählte, zeigte sich dieser wenig begeistert.
„Köpfe sind rasch abgeschlagen, aber furchtbar schwer wieder anzunähen.“, äußerte er seine Bedenken.


Mit der ernsten Miene eines Professors für Kopfverpflanzungen zählte er alle möglichen Gefahren auf. Es wurde eine endlose Liste.
„Wenn eine einzige Naht an die falsche Stelle gerät, versinkt die ganze Apparatur im Chaos.“, erklärte er.
„Die Augen sehen plötzlich schwarz. Die Ohren fangen zu pfeifen an. Und was vorher leicht über die Lippen ging, muss man sich für den Rest seiner Tage mühsam aus der Nase ziehen.“
Das wäre erst der Anfang der Probleme, die eine Kopfverpflanzung mit sich brachte, prophezeite der Vater und ließ eine endlos lange Liste an Komplikationen folgen.
„Der Herzschlag gerät außer Takt. Die Lunge bekommt keine Luft mehr. Die Nieren verstopfen. Die Blase platzt. Der Magen knurrt. Die Leber kocht. Und die Galle läuft über.“
Der Vater redete sich die Seele aus dem Leib. Trotzdem gelang es ihm nicht, das Fräulein „So-La-La“ von ihrem Vorhaben abzubringen.
Aller Nebenwirkungen zum Trotz war sie fest entschlossen, das hässliche Spiegelbild auf ihrem Hals loszuwerden.
„Ich knan diese Farzte nicht mher sheen.“, schnitt sie dem Vater das Wort ab. Ohnedies hielt sie seine Schilderungen für übertrieben. Was bei einer Puppe ohne Komplikationen funktionierte, konnte so schwierig nicht sein.
Der Vater widersprach heftig.
„Vielleicht kommt der Tag, an dem eine Kopfverpflanzung unkomplizierter ist, als eine harmlose Blinddarmoperation. Aber an dem Preis, den man dafür bezahlen muss, wird sich nichts ändern.“
Seine Buchhaltermiene verhieß nichts Gutes. Sie tauchte immer dann in seinem Gesicht auf, wenn die Mutter ankündigte, die Bestände in ihren Kleider- und Schuhschränken zu erneuern.
Es waren nicht die Einkäufe, die den Vater ernst stimmten. Es waren die Rechnungen, die sich ihnen anschlossen.
Zum ersten Mal geriet die Euphorie des Fräuleins „So-La-La“ ins Schwanken. Kleinlaut musste sie eingestehen, keinerlei Gedanken an den Preis einer Kopfverpflanzung verschwendet zu haben.
„Ksotet es mher als Schhue und Kelider?“, stotterte der verrückte Clown in ihrem Mund.


Die Vorstellung, die Anschaffung eines neuen Spiegelbildes könnte am der Rechnung scheitern, legte sich wie eine dunkle Wolke über sie.
„Die Kosten sind das geringste Übel.“, antwortete der Vater.
„Mit einem neuen Kopf auf dem Hals gehen alle Erinnerungen und Träume verloren.“
Augenblicklich zerplatzte der Plan des Fräuleins „So-La-La“ wie eine Seifenblase. Für nichts auf der Welt war sie bereit, auf ihre Erinnerungen und Träume zu verzichten.
Zähneknirschend sagte sie die Kopfverpflanzung ab. Das Spiegelbild durfte seine unansehnliche Fratze behalten. Das Biest dankte es mit einer neuen Zahnlücke in der vordersten Reihe.
Nun war dem Fräulein „So-La-La“ auch das Zähneputzen verdorben. Heulend rettete sie sich in die Arme ihrer Mutter.
„Ich hsase mien Sipegelblid.“, jammerte sie.
Auf der Stirn der Mutter zeichnete sich eine dicke Sorgenfalte ab.
„Warum könnt ihr euch nicht miteinander versöhnen?“ versuchte sie, den Streit zu schlichten.
„Es mchat mcih hsäslcih.“, schluchzte das Fräulein „So-La-La“ die Bluse ihrer Mutter nass.
„Ich kann beim besten Willen nichts Abstoßendes daran erkennen.“, mischte sich der Vater unaufgefordert in die Debatte ein.
Vollmundig behauptete er, vor vielen Jahren in eine ähnliche Auseinandersetzung mit seinem eigenen Spiegelbild verstrickt gewesen zu sein.
Irgendwann hätte man die Vereinbarung getroffen, sich gegenseitig aus dem Weg zu gehen. Seit dieser Zeit würden sich ihre Begegnungen auf ein kurzes Zusammentreffen im Badezimmerspiegel beschränken.
Und weil ihn Mutter und Tochter mit verächtlichen Blicken musterten, als stünde er nackt vor ihnen, sah sich der Vater zu seinem Unglück aufgefordert, die Erfahrungen mit seinem Spiegelbild genauer zu beschreiben.
„Wer sich seltener sieht, hat auch weniger Gelegenheit zum Streiten.“, redete er sich um Kopf und Kragen.


Das Fräulein „So-La-La“ strafte ihn mit kalter Verachtung. Von der Mutter erntete er schallendes Gelächter. Im abfälligen Ton erklärte sie ihm seine völlige Ahnungslosigkeit.
Nie und nimmer gäbe es in dieser Angelegenheit einen Zusammenhang mit seinem Spiegelbild, dem es augenscheinlich an jederlei Gefälligkeit mangeln würde.
Die Schönheit seiner Tochter stünde dagegen außer Streit, weil ihrer Mutter wie aus dem Gesicht geschnitten wäre. Es ginge lediglich um kleinere Ausbesserungsarbeiten. Punkt. Aus. Sieg.
Zerknirscht räumte der Vater das Feld, bevor sich weitere Schmähungen über ihn ergossen.
In der Mutter rief der Kummer des Fräuleins „So-La-La“ bittere Erinnerungen wach. Über Tage und Wochen wälzte sie sich im Bett durch schlaflose Nächte, bis sie eine Lösung gefunden, wie das Übel aus der Welt zu schaffen war.
„Es wird Zeit, Captain Feelgood wieder in See stechen zu lassen.“, unterhielt sie sich mit dem Mond, dessen gelbe Sichel am Himmel wie ein mächtiges Schiff durch die Wolken pflügte.
Noch in der gleichen Nacht zerplatzte eine riesige Regenwolke direkt über dem Dach des Hauses. Der sintflutartige Regenguss, der auf das Land niederprasselte, bildete die Vorhut für die kommenden Ereignisse.
Der Vater schnarchte nichtsahnend neben der Mutter, als ihn ein Schlag gegen die Rippen aus den Träumen riss.
Unverzüglich ereilte ihn der Auftrag, die Treppe zum Wohnzimmer hinunter zu laufen und einen Anruf zu erledigen. Bei einer Weigerung stellte ihm die Mutter weitere Ellbogenstöße in Aussicht.
Hals über Kopf jagte der Vater aus dem Bett. Im Halbschlaf hastete er die Treppe hinunter.
Es grenzte an ein Wunder, dass er nicht stolperte und sich das Genick brach.
Mit zittriger Hand griff er im Wohnzimmer nach dem Telefon und wählte die Nummer. Drei Mal läutete es am anderen Ende der Leitung. Dann meldete sich eine tiefe Stimme.


„Es ist ein Notfall.“, stotterte der Vater in den Hörer.
„Dieses Telefon läutet nur bei Notfällen.“, brummte die tiefe Stimme aus dem Hörer.
Nach wenigen Sätzen war das Telefonat beendet. Als der Vater ins Schlafzimmer zurück stapfte, wurde er bereits ungeduldig erwartet. „Was hat sie gesagt?“, herrschte ihn die Mutter an.
Der Vater schlüpfte ins Bett und zog sich die Daunendecke bis zur Nasenspitze hoch.
„Die Geschichte hört sich einfach zu seltsam an, um sie zu verstehen.“, begann er seinen Bericht.
Er hatte Anweisung bekommen, mit dem ersten Hahnenschrei des nächsten Tages die Badewanne volllaufen zu lassen.
Die Mybody, hatte ihn die Stimme am Telefon wissen lassen, würde noch in der gleichen Nacht die Segel setzen. Mit seiner Ankunft in der Badewanne wäre im Morgengrauen zu rechnen.
Der Vater wusste mit diesem Seemannsgarn wenig anzufangen. Die Mutter zeigte sich weniger erstaunt.
„Die Mybody ist ein Schiff.“, klärte sie ihren ahnungslosen Ehemann auf.
Ihre Augen leuchteten in der Dunkelheit, als verglühte eine Sternschnuppe darin.
„Der alte Sam hat seinen Anker gelichtet.“, trällerte die Mutter ausgelassen.
Vor Freude trommelte sie mit Händen und Füßen gegen die Matratze.
Fassungslos wurde der Vater Augenzeuge, wie sich seine Frau, die in der Blüte ihrer Jahre stand, zu einem kleinen Mädchen zurück entwickelte.
Mit Mühe gelang es ihm, das Verlangen zu unterdrücken, den Zeigefinger auszustrecken und sich damit an die Stirn zu tippen.
Die Vorstellung, ein Zweimaster würde demnächst in der Badewanne auftauchen, war schon abwegig genug. Viel mehr beschäftigte ihn der Gedanke, dass seine Frau mit einem der Matrosen auf vertrautem Fuß zu stehen schien.
„Wer ist Sam?“, fragte er eifersüchtig.
Augenblicklich blickte er in zwei finstere Gewehrläufe. Es waren die zusammengekniffenen Augen der Mutter. Mit scharfer Stimme verbat sie dem Vater die ungebührliche Anrede.


„Er heißt Captain Samuel Feelgood. Die Mybody steht unter seinem Kommando.“
Die Antwort traf den Vater mit der Wucht eines Peitschenschlages.
Er war durch den verrückten Clown, der im Mund des Fräuleins „So-La-La“ seinen Unfug trieb, an allerlei gewöhnt.
Selbst der Anblick der seltsamen Strichfiguren, deren ballonförmige Köpfe von allen Wänden des Hauses grinsten, erschreckte ihn nicht mehr.
Aber die Vorstellung, dass ein ihm völlig unbekannter Captain Feelgood in seiner Badewanne den Anker warf, schadete seinem Blutdruck mehr als es ihm gut tat.
Mit dem festen Vorsatz, den Likörkonsum im Haus stärker zu kontrollieren, drehte er sich zur Seite und kippte in einen unruhigen Schlaf.
Während der folgenden Stunden, in denen der Vater im Traum einem Piraten hinterher jagte, der über die Badewanne Likörflaschen ins Haus schmuggelte, tat die Mutter kein Auge zu. Mit verklärtem Blick starrte sie zur Decke hoch.
„Captain Feelgood.“, seufzte sie im Minutentakt.
Warum hatte sie nicht schon eher daran gedacht? Der alte Seebär mit seinem messerscharfen Verstand war der richtige Mann, um den Zwist zwischen dem Fräulein „So-La-La“ und ihrem Spiegelbild zu beenden.
Erst im Morgengrauen löschte sie das Licht.
Ein Sturmgeläut an der Haustür riss sie nach wenigen Stunden aus dem Schlaf. Obwohl sich ihre Beine schwer wie Blei anfühlten, hätte sie eine brennende Matratze nicht schneller aus dem Bett getrieben. Hastig griff sie nach ihrem Morgenmantel und eilte die Treppe hinunter.
Im Vorzimmer traf sie auf das Fräulein „So-La-La“. Sie war ihrer Mutter zuvor gekommen und hatte den morgendlichen Besucher ins Haus gelassen.
Die Großmutter stand breitbeinig in der offenen Tür. Sie war gerade dabei, ihren durchnässten Mantel auf die Garderobe zu hängen.
Die in der Nacht angewehte Regenwolke entlud immer noch ihre nasse Ladung über dem Haus.


Oma Rosa zeigte wenig Lust, die Zeit mit überflüssigen Wangen-küssen und Umarmungen zu verschwenden. Sie verwies auf die schwere Tasche in ihren Händen und trieb zur Eile an.
„Es wird Zeit, das Quartier für Captain Feelgood vorzubereiten.“, sagte sie und schritt umgehend zur Tat.
Mit weit ausholenden Schritten durchquerte sie das Wohnzimmer.
Die Tasche in der einen und das Fräulein „So-La“ an der anderen Hand, stapfte sie die Stufen zum Badezimmer hoch.
Am Ende der Treppe lief ihnen der Vater schlaftrunken in die Arme. Die nächtliche Piratenjagd hatte deutliche Spuren in seinem Gesicht hinterlassen.
Unrasiert und mit dunklen Ringen unter den Augen sah er den Tabletten- und Alkoholschmugglern, denen er im Traum nachgestellt hatte, zum Verwechseln ähnlich.
Die Begrüßung fiel kühl aus.
„Mein Sohn, du solltest aufhören mit nächtlichen Anrufen, einer alten Frau den Schlaf zu rauben.“, ermahnte Oma Rosa ihren verdatterten Schwiegersohn.
Noch ehe der Vater den Mund zu einer Erwiderung aufbrachte, schnitt sie ihm das Wort ab.
„Über deine nächtlichen Trinkgewohnheiten unterhalten wir uns später.“, musste er sich anhören.
Damit erklärte sie die Freundlichkeiten für beendet. Unmissverständlich gab die Großmutter dem Vater zu verstehen, dass sie Dringenderes zu erledigen hatte, als einen verkaterten Trinker zu bemitleiden.
Captain Feelgood würde bereits ungeduldig darauf warten, in den Hafen einlaufen zu können.
Mit dem Fräulein „So-La-La“ im Schlepptau verschwand Oma Rosa im Badezimmer und verriegelte die Tür hinter sich.
„Was geht hier Verrücktes vor.“, rang der verdutzte Vater nach Fassung.
Die Mutter, die am Fuß der Treppe das Geschehen beobachtet hatte, antwortete ihm mit einem Schulterzucken.
Das Rauschen des Wasserhahns hinter der Badezimmertür rief ihm den angekündigten Besuch des geheimnisvollen Segelschiffes in Erinnerung.


Die Leitungen im Badezimmer arbeiteten unter Volllast für den not-wendigen Tiefgang.
Grobe Verwünschungen murmelnd, stapfte der Vater die Treppe hinunter. Er hatte schlecht geträumt. In seinem Kopf rumorte eine vage Eifersucht auf einen unbekannten Schiffsmatrosen, dessen Schiff in seiner Badewanne den Anker geworfen hatte.
Er verspürte gute Lust, ins Badezimmer zu stürmen und den unliebsamen Gast samt der Großmutter aus dem Haus zu werfen. Aus Sorge um seinen Blutdruck verwarf er den Plan wieder und entschied, seinen Ärger vorerst mit einer Tasse Kaffee hinunter zu spülen.
Unterdessen hatte das Fräulein „So-La-La“ begonnen, die Großmutter mit Fragen über Captain Feelgood zu löchern. Sie wollte unbedingt in Erfahrung bringen, was es mit dem geheimnisvollen Fremden auf sich hatte, dessen Ankunft unmittelbar bevorstand.
Seine Anreise mit dem Schiff war an sich schon merkwürdig, da Besucher gewöhnlich mit dem Auto vor fuhren. Noch seltsamer mutete ihr der Ort seiner Ankunft an. Die Großmutter erwartete Captain Feelgood nicht an der Haustür, sondern in der Badewanne.
„Sciher war er ein Friebueter mit den dciksten Knaonen an Brod.“, erging sich das Fräulein „So-La-La“ in haarsträubenden Vermutungen.
Oma Rosa schüttelte den Kopf.
„Er war ein friedfertiger Schiffskapitän, der keiner Menschenseele etwas zuleide tat.“, erwiderte sie.
„Dnan kmäpfte er mit gefärhlcihen Seeungehueern auf Lbeen und Tod?“
Wieder musste die Großmutter die Hoffnungen des Fräuleins „So-La-La“ enttäuschen.
„Ich fürchte, er hat keinen einzigen Fisch an den Haken gekriegt, der größer war als ein Hering.“
Das Fräulein „So-La-La“ runzelte die Stirn. Wer war dieser geheimnisumwitterte Seemann, der ein Schiff steuerte, das weder Kanonen noch Fischernetze an Bord hatte? Sie unternahm einen letzten Anlauf.
„Bestmimt hat er unbeknante Lnäder entdkect und die Welt görßer gemcaht.“
Die Großmutter winkte erneut ab.


„Ich fürchte, auch diese Heldentat blieb ihm versagt. Zu seinen Lebzeiten wurde die Welt um keinen Quadratzentimeter größer, als sie es bereits war.“
Mittlerweile hatte das heiße Wasser, das aus den Leitungen strömte, die Wanne zur Hälfte gefüllt. Der hochsteigende Dampf hüllte den kleinen Raum in dichte Rauchschwaden.
Mit dem kritischen Blick eines Hafenmeisters prüfte Oma Rosa den Wasserstand.
„Der Ankunft von Captain Samuel Feelgood steht nichts mehr im Weg.“, zeigte sie sich mit dem Pegelstand der Badewanne zufrieden.
Das Fräulein „So-La-La“ hielt der Aufregung nicht länger stand. Flugs schlüpfte sie aus dem Nachthemd und sprang in die Wanne, um die Einfahrt des Schiffes aus nächster Nähe zu beobachten.
Langsam stachen die Umrisse des Zweimasters durch den aufsteigenden Wasserdampf. Captain Feelgood steuerte sein Schiff hart backbord. Eine steife Brise blähte die Segel. Er hielt direkt auf das Fräulein „So-La-La“ zu.
Auf Höhe ihres linken Knies, das zur Hälfte aus dem Wasser ragte, riss er das Ruder herum und leitete in einem gewagten Manöver eine scharfe Wende ein.
Eine gewaltige Bugwelle spritzte auf und brachte die Mybody beinahe zum Kentern. Das Schiff schwankte bedrohlich nach allen Seiten, bevor es in ruhiges Gewässer zurück fand.
Der Anblick des kleinen Zweimasters, der eine Armlänge von ihr entfernt im Wasser schaukelte, riss das Fräulein „So-La-La“ unsanft aus ihren Träumen. Ihr Zeigefinger zuckte nervös.
Die Mybody war kein richtiges Piratenschiff. Vom Bug bis zum Heck war es nicht länger als eine Limonadenflasche. Der Rumpf war aus Streichhölzern geklebt. Zwei übereinander gestapelte Zigarrenschachteln bildeten die Kommandobrücke. In der Mitte ragten zwei dünne Häkelnadeln hoch, an denen kleine Stofffetzen hingen, die als Segeln dienten.
Der alte Kahn hatte nie auf einem Ozean Wind und Wetter getrotzt. Sein Heimathafen war keine einsame Piratenbucht. Viel eher hatte er die letzten hundert Jahre in einer Spielzeugkiste auf einem Dachboden zugebracht.


Die Erscheinung von Captain Feelgood war nicht weniger armselig. Der Schwarm der Mutter entpuppte sich als fingergroße Spielfigur im Piratenkostüm, die mit den Füßen auf der Kommandobrücke des Schiffes geklebt war, um nicht von der ersten Welle über Bord gespült zu werden.
Das Fräulein „So-La-La“ sparte nicht mit empörten Blicken. Man hatte sie mit falschen Versprechungen in die Badewanne gelockt.
Captain Feelgood und sein Schiff Mybody schienen dem verstaubten Fundus eines Puppentheaters entsprungen zu sein.
„Was in deiner Badewanne schwimmt, sieht aus wie ein Streichholzboot, das von einem Plastikkapitän gesteuert wird.“, bestätigte die Großmutter, was ohnedies nicht zu leugnen war.
„Aber wer genauer hinsieht, erkennt etwas völlig anderes.“
Die echte Mybody, berichtete sie, musste keinen Stürmen mehr trotzen. Sie war vor vielen hundert Jahren mit Mann und Maus im Indischen Ozean versunken.
Captain Feelgood hatte bis zuletzt auf der Kommandobrücke seines Schiffes ausgeharrt und ruhte mit ihm auf dem Grund des Meeres.
In den Erzählungen der Seeleute aber hatte seine Geschichte bis in die heutige Zeit überdauert. In jedem Hafen warf sie ihren Anker aus. Nachts schlich sie als unruhiges Gemurmel um die Kais. In den Kneipen wurde sie flüsternd von einem Ohr zum anderen weiter gereicht.
„Und manchmal taucht sie in der Badewanne eines kleinen Mädchens auf.“, scherzte die Großmutter.
Der echte Captain Feelgood war keine Augenweide, dem die Herzen der Menschen zuflogen. Eine Laune der Natur hatte ihm die Statur eines kartoffelförmigen Zwerges mit kurzen Armen und Beinen gegeben.
In seinem pockennarbigen Gesicht herrschte ein Durcheinander, als hätte ein gewaltiger Sturm darin gewütet. Alles wirkte schief und verschoben. Das spitze Kinn ragte aus seinem Gesicht wie ein sturmgepeitschtes Riff aus einem Ozean.
Seine Hakennase war von tausenden Seestürmen krumm geschliffen. Über dem linken Auge trug er eine Augenklappe.


Wenn er den Mund öffnete, blitzte ein Gebiss auf, das einem scharfzahnigen Fangeisen glich.
Das Schiff sah nicht weniger ungewöhnlich aus als sein Kapitän. Es war ein alter Seelenverkäufer, den die kleinste Brise auf den Grund des Meeres zu schicken drohte.
In den Augen von Captain Feelgood war der marode Kahn das beste Schiff, das über die Meere segelte.
Beim Gedanken an den Zweimaster glänzten seine Augen. Er liebte seine Mybody, wie sie war. Das Schiff hatte ihn ein Seemannsleben lang nicht in Stich gelassen und der stürmischsten See getrotzt.
„Seine Planken mögen morsch und die Segel zerrissen sein. Aber um Nichts würde ich es tauschen wollen. Denn ohne dieses Schiff hätte ich die Weite des Ozeans nicht erfahren.“, schwärmte er.
Captain Feelgood war mit sich im Reinen. Er haderte weder mit seinem Aussehen, noch mit dem Zustand des Schiffes, das unter seinem Befehl stand.
Warum sollte er auch? Es existierte kein Hafen, an dem die Seeleute nicht ängstlich den Blick senkten, wenn er ihnen in die Augen sah.
In jeder Kneipe von Kneipe von Alaska bis Madagaskar wurde es totenstill, sobald sich sein Schatten in der Tür abzeichnete.
Die wenigen Großmäuler, die in seiner Gegenwart ein spöttisches Wort wagten, durften auf keinen Pardon hoffen.
„Ich habe in das Auge des fürchterlichsten aller Feinde geblickt. Und bei Gott, ich stünde nicht hier, wenn ich ihn nicht besiegt hätte.“, donnerte er den Unglücklichen entgegen, dass der Putz von den Wänden bröckelte.
Sein Ansehen gründete auf der Macht dieser Worte. Nur die Tapfersten fanden den Mut, es Captain Feelgood gleich zu tun. Und die allerwenigsten unter ihnen kehrten als Sieger zurück.
Mit offenem Mund lauschte das Fräulein „So-La-La“ dem Seemannsgarn ihrer Großmutter.


Der Ärger über das armselige Streichholzboot in der Badewanne war wie weggeblasen.
„Womit hat er den Seemännren enien slochen Scherkcen eingejgat.“, fragte sie mit erregter Stimme.
„Er hat ihnen einen Spiegel vor die Nase gehalten.“, antwortete die Großmutter.
„Wer in deisen Speigel bilckte, bileb für alle Ziet darin gefnagen.“, schoss wie es aus einer Pistole aus dem Mund des Fräuleins „So-La-La“.
Sie entzückte sich an der Vorstellung, ihr unsägliches Spiegelbild an diesen Ort zu verbannen.
Oma Rosa lächelte milde.
„Ein kleiner Taschenspiegel bietet nicht genügend Platz für ein Gefängnis dieser Größe.“, widersprach sie.
Einmal beflügelt, war Phantasie des Fräuleins „So-La-La“ nicht zu bremsen.
„Er hat den Mneschen irhe Zuknuft geziegt.“, beschwor sie einen anderen Zauber, dem Captain Feelgood seine Macht über die Menschen verdankte.
Wieder verneinte die Großmutter.
„Es war ein gewöhnlicher Taschenspiegel. Man sah darin nichts anderes als in jedem anderen Spiegel.“
Das Fräulein „So-La-La“ gluckste enttäuscht. Die Geschichte entwickelte sich ganz und gar nicht nach ihren Vorstellungen.
Ihre Aufmerksamkeit richtete sich wieder auf das kleine Streichholzboot, das in der Wanne schaukelte. Es war Zeit, den alten Kahn zurück zu den Fischen zu schicken.
Das Fräulein „So-La-La“ stampfte mit den Füßen im Wasser, bis sich eine gewaltige Sturmflut aufbrauste.
Woge für Woge brach über den kleinen Zweimaster zusammen. Die Nussschale wehrte sich tapfer gegen den Untergang.
Da ertönte ein lauter Knall. Blitzartig erlosch das Licht in der Deckenlampe. Der Raum verschwand in pechschwarzer Dunkelheit. Der beißende Geruch von Schweiß und Tabakrauch schwängerte die Luft. Nach bangen Sekunden flackerte die Flamme eines Streichholzes in der Hand der Großmutter auf.


Mit aufgerissenen Augen starrte das Fräulein „So-La-La“ in eine gespenstische Szenerie.
Das Badezimmer hatte sich in eine dunkle Hafenkneipe verwandelt.
Im Licht brennender Kerzenstumpen blickte sie in die verschlagenen Gesichter bärtiger Gesellen. Sie hockten auf hölzernen Tischen und gaben sich Mühe, den auf den Schiffen verdienten Lohn beim Würfelspiel zu verlieren. Ihr Stimmengewirr erfüllte den winzigen Raum mit einem dröhnenden Singsang. Sie unterbrachen ihr Gerede nur, um an den Tabakpfeifen zu paffen oder sich den Rum becherweise in die Kehlen zu kippen.
Merkwürdigerweise nahm niemand Notiz von dem kleinen Mädchen, das mitten unter ihnen in einer Badewanne festsaß.
Vorsichtshalber ging das Fräulein „So-La-La“ auf Tauchstation. Lautlos glitt sie unter die Wasserlinie, bis nur noch ihre Nasenspitze aus dem Wasser ragte.
Es war keine Sekunde zu früh. Denn mit gewaltigem Getöse schlug eine Tür auf. Ein kalter Luftzug wehte durch den Raum und löschte alle Kerzen aus.
Die Seeleute verstummten mitten im Satz und verdrehten die Hälse zum Eingang der Hafenkneipe.
Der Wind, der durch den offenen Türschlag strömte, blähte die Segel des Zweimasters in der Badewanne und steuerte ihn auf einen verhängnisvollen Kurs. In voller Fahrt prallte er gegen ein aus dem Wasser ragendes Hindernis.
„Aua.“, schrie das Fräulein „So-La-La“ auf.
Nach Luft schnappend schnellte sie hoch und rieb sich die geschwollene Nase. Sofort bemerkte sie die sonderliche Gestalt, die breitbeinig im offenen Türrahmen stand. Das Licht der Straßenlaterne warf seine Silhouette bis in die letzte Tischreihe. Auf seinen kümmerlich kurzen Beinen ragte der Zwerg gerade bis zur Türklinke hoch.
Sein Kopf hatte die Form einer riesigen Wassermelone mit einem Dreispitzhut obenauf. Über dem linken Auge trug er eine Augenklappe.
Trotz seiner komischen Erscheinung starrten ihn die rauen Gesellen an den Tischen mit versteinerten Mienen an. Niemand wagte ein Zucken oder Räuspern.
„Cpatian Feelgood.“, kreischte das Fräulein So-La-La“ auf und wünschte im selben Atemzug ihre vorlaute Zunge zum Teufel.


Hundert Augenpaare wanderten gleichzeitig in ihre Richtung. Spontan entschied das Fräulein „So-La-La“, wieder auf Tauchstation zu gehen und toter Fisch zu spielen.
Langsam schritt Captain Feelgood die stummen Reihen ab. Die gesenkten Köpfe der Seeleute bildeten das Spalier für seinen Empfang. Mit zusammengekniffenen Augen musterte er jedes Gesicht.
Den Seemännern stand der Schweiß auf der Stirn. Sie wussten ihr Leben an einem seidenen Faden. Wer sich zu einem Grinsen hinreißen ließ oder einen spöttischen Blick wagte, war unrettbar verloren. Ohne Erbarmen würde ihn Captain Feelgood dem schlimmsten aller Feinde ausliefern.
Das Klappern seiner Stiefelabsätze hallte auf dem kalten Steinboden endlos durch den Raum. Viel zu lange für einen scheintoten Fisch, der an die Oberfläche musste, um nach Luft zu schnappen.
Als das Fräulein „So-La-La“ aus dem Wasser tauchte, sah sie sich Nasenspitze an Nasenspitze dem pockennarbigen Gesicht von Captain Feelgood gegenüber.
„Bei allen rostigen Enterhaken, was haben wir hier für eine seltsame Wasserleiche.“, brüllte er und brach in ein schallendes Gelächter aus.
Nach einem kurzen Zögern stimmten die Seeleute in sein Lachen ein. Nicht wenige nutzten die Gelegenheit den ausgestandenen Schrecken mit einem Becher Rum hinunter zu spülen.
„Ich bin kiene Lieche.“, protestierte der verrückte Clown im Mund des Fräuleins So-La-La“.
Verzweifelt versuchte das Fräulein „So-La-La“ seinen törichten Charakter in Zaum zu halten. Aber die übermütige Zunge hatte Blut geleckt.
„Wer so kmoisch ausseiht wie du , soltle nciht mit dem Figner auf andree Luete ziegen.“, richtete sie Captain Feelgood aus.
Schlagartig verstummte das Gegröle an den Tischen. Die Luft war zum Zerreißen gespannt. Etwas Ungeheuerliches war geschehen. Ein kleines Mädchen hatte gewagt, Captain Feelgood herauszufordern.
„Habe ich richtig gehört. Ich, der dem schlimmsten aller Feinde ins Auge geblickt und ihn besiegt habe, werde der Lüge beschuldigt.“, polterte Captain Feelgood zornig zurück.


Drohend schweifte sein Blick durch den Raum. Die Seeleute steckten die Köpfe ein.
„Ein Schuft ist jeder, der einen ehrbaren Captain einen Lügner nennt. Ein solches Vergehen verdient eine angemessene Strafe.“, donnerte Captain Feelgood und zauberte einen kleinen Taschenspiegel aus seinem Rock hervor.
Das Fräulein „So-La-La“ zitterte in der Wanne wie ein aus dem Wasser gezogener Fisch.
Nun wurde auch ihrer verrückten Zunge klar, in welches Schlamassel sie sich hineingeritten hatte.
„Es war kiene Abcsiht., “ winselte sie um Gnade.
Ihr Flehen verhallte ungehört. Captain Feelgood war ein unbarmherziger Richter.
„Bist Du bereit dem schlimmsten aller Feinde gegenüberzutreten und dich mit ihm zu messen?“, verkündete er das mitleidlose Urteil.
Ein Raunen ging durch die Reihen der Seeleute. Nicht einer saß unter ihnen, dem das Auge trocken blieb. Sie waren hartgesottene Burschen, denen kein Sturm zu wild und keine Seeschlacht zu grausam war.
Aber mitansehen zu müssen, wie ein kleines Mädchen dem schlimmsten aller Feinde ausgeliefert wurde, rührte auch sie in der Seele an.
Captain Feelgood schwang den Spiegel über seinen Kopf wie ein Scharfrichter das Beil. Es herrschte Totenstille im Raum, als hielte die ganze Welt für einen Augenblick den Atem an. Dann schnellte sein Arm herunter.
Ein vielstimmiger Aufschrei schwappte die Tischreihen entlang.
„Schau hinein und blicke dem schlimmsten aller Feinde ins Auge.“, vollstreckte Captain Feelgood die verhängte Strafe. Das Fräulein „So-La-La“ stieß einen entsetzten Aufschrei aus, als sie in den Spiegel blickte. Schonungslos legte er jeden Makel an ihr frei. Die Fratze im Spiegel hätte nicht hässlicher sein können. Nichts war ihr mehr verhasst als das eigene Spiegelbild. Captain Feelgood hatte seine Drohung wahr gemacht. Auge in Auge stand sie dem schlimmsten aller Feinde gegenüber.
Angeekelt wandte das Fräulein „So-La-La“ den Blick ab.


„Kämpfe mit ihm.“, wehte der Wind, der durch die Tür hereinblies, eine ferne Stimme an ihr Ohr.
„Wie slol ich ihn beseigen. Er ist zu strak.“, schluchzte das Fräulein „So-La-La“ und vergrub ihr Gesicht in den Händen.
„Liebe dich, wie du bist. Liebe das, was du bist. Nur dann kannst du den schlimmsten aller Feinde bezwingen. “
Der Klang der vertrauten Stimme wirkte Wunder.
Das Fräulein „So-La-La“ streckte dem verhassten Spiegelbild, das hämisch aus dem Taschenspiegel von Captain Feelgood grinste, die Hand entgegen.
„Miene Hraae gälnzen wie Siede.“, wagte sie einen zaghaften Versuch, sich mit ihrem schlimmsten Feind auszusöhnen.
Die Fratze im Spiegel schlug das Friedensangebot verächtlich aus.
Dieses filzige Gestrüpp will niemand auf seinem Kopf sehen.“, konterte es siegesgewiss.
„Miene Nsae ist wnuderschön.“, stotterte das Fräulein „So-La-La“.
„Der Zinken sieht aus wie eine Kartoffel.“, widersprach das Spiegelbild.
In dieser Tonart ging es endlos weiter. Es entwickelte sich ein zähes Ringen. Auge um Auge, Zahn um Zahn.
Das Fräulein „ So-La-La“ kämpfte verbissen.
Langsam schwanden ihre Kräfte. Am Ende stand es nicht gut um sie. Es war nur eine Frage der Zeit, bis ihr Spiegelbild endgültig die Oberhand gewann.
Alles oder nichts wagte das Fräulein „So-La-La“ eine allerletzte Attacke.
„Ich mag dcih.“, schleuderte sie ihrem verhassten Spiegelbild entgegen.
„Was du bist, bin ich. Was ich bin, bist du. Und wie es ist, ist es gut.“
Hatte sie selbst zu diesen Worten gefunden? Oder waren sie ihr auf wundersame Weise ins Ohr geflüstert worden?
Das Fräulein „So-La-La“ redete wie im Fieber. Unentwegt wiederholte sie die Sätze. Anfangs zitterte ihre Stimme, dass man kein Wort verstand. Aber von Mal zu Mal klangen die Vokale fester, die Konsonanten entschlossener, die Silben kraftvoller.


Die Salven erwischten ihren Gegner unvorbereitet.
Das Fräulein „So-La-La“ hatte den schlimmsten aller Feinde an seiner empfindlichsten Stelle getroffen. Seine Überheblichkeit geriet ins Wanken.
„Siehst du nicht die hässliche Fratze im Spiegel.“, stammelte das Spiegelbild.
Das Fräulein „So-La-La“ blieb nicht weniger unbarmherzig als es Captain Feelgood bei ihr gewesen war. Der schlimmste aller Feinde verdiente keine Milde.
Mit entschlossener Stimme holte sie zum entscheidenden Hieb aus.
„Ich leibe dcih. Wie du bsit. Und was du bsit.“
Nun geschah das Unfassbare. Der Fratze löste sich in Luft auf. An seiner Stelle strahlte das Gesicht eines fröhlichen Mädchens aus dem Spiegel. Ihr Haar schillerte in den Farben der Sonne. In ihren Augen glitzerte das Leuchten des kommenden Tages. Und um ihre Lippen schimmerte der erste Morgentau.
Fasziniert betrachtete das Fräulein „So-La-La“ ihre neue Erscheinung.
Ungläubig streckte sie die Hand nach dem Spiegelbild aus. Im selben Augenblick schoss ein heller Blitz aus der Deckenleuchte über der Badewanne. Ein grelles Licht durchflutete den Raum.
Aus der Ferne ertönte die fluchende Stimme von Captain Feelgood, in die sich ein vertrauter Klang mischte.
„Was zum Teufel geht hier vor?“
Das Fräulein „So-La-La“ drehte den Kopf nach allen Richtungen. Ungläubig starrte sie auf die weißen Fliesen des Badezimmers.
Die schummrige Hafenkneipe hatte sich in Luft aufgelöst. Mit ihr waren auch das Gegröle der Seeleute und der Geruch von Tabak und Schweiß verschwunden.
Aus den Augenwinkeln beobachtete das Fräulein „So-La-La“ wie die Großmutter das Streichholzboot mit der Plastikfigur aus der Wanne fischte und in ihrer Tasche verstaute.
„Ich hoffe, ihr habt keinen Schrecken bekommen, als das Licht ausging. Der Toaster in der Küche hat einen Kurzschluss ausgelöst.“, rief eine Stimme in der offenen Tür.


Das Gesicht, das im Türrahmen auftauchte, war nicht weniger schief als das von Captain Feelgood. Aber es trug unverkennbar die Züge des Vaters.
„Man stürmt nicht ungefragt das Badezimmer einer Dame.“, brummte die Großmutter, die auf einem Hocker neben der Wanne saß.
Der Vater grinste hämisch und zog einen dicken Schlüsselbund aus seiner Hose.
„Für den Fall, dass eine alte Piratenfregatte das Badezimmer kapert und einem kleinen Mädchen die Ohren mit wirren Geschichten vollplappert, gibt es zu jeder Tür einen Zweitschlüssel.“, antwortete er.
Dabei maß er die Großmutter mit einem geringschätzigen Blick von Kopf bis zum Fuß, um keinen Zweifel offen zu lassen, welche Art von Fregatte gemeint war.
Eine Handtasche, die ihn mitten auf die Nase traf, beendete sein Siegesgeheul. Mit einem wilden Fluch auf den Lippen wischte er sich das Blut aus dem Gesicht und suchte sein Heil in der Flucht.
Während Oma Rosa den verstreuten Inhalt ihrer Handtasche aufsammelte, schweiften die Gedanken des Fräuleins „So-La-La“ ab.
Hatte sie wirklich den schlimmsten aller Feinde besiegt?
Oder war sie einem närrischen Spuk aufgesessen, den ihre Großmutter angezettelt hatte? In diesem Fall war nichts gewonnen. Der nächste Blick in den Spiegel würde sie in das alte Jammertal zurückwerfen.
Sie griff nach dem Handtuch, das ihr die Großmutter reichte und stieg am ganzen Körper bibbernd aus der Wanne. Beim Abtrocknen ihrer Haare bemerkte sie unter dem Waschtisch einen glänzenden Gegenstand. Blitzschnell rutschte sie auf den Knien über den Boden und schnappte danach.
Triumphierend hielt sie Oma Rosa den Fund unter die Nase. Der kleine Taschenspiegel beseitigte alle Zweifel.
Es ist kien Tarum gewseen.“, schrie sie aufgeregt.
„Catpian Feelgood hat es wriklich gegbeen.“
Das Fräulein „So-La-La“ herzte das Beweisstück wie ein Heiligtum. Nie wieder würde sie sich von diesem kostbaren Schatz trennen.


Solange der Taschenspiegel ihr gehörte, musste sie den schlimmsten aller Feinde nicht fürchten. In ihre Freude mischte sich plötzlich Angst.
Ein schrecklicher Gedanke schoss wie ein Blitz durch ihren Kopf. Was würde geschehen, wenn Captain Feelgood seinen Verlust bemerkte und den Spiegel zurückforderte?
„Es besteht dafür kein Anlass zur Sorge. Captain Feelgood besitzt einen großen Vorrat an Spiegel.“, zerstreute die Großmutter ihre Zweifel.
Das Geräusch nahender Schritte lenkte die Aufmerksamkeit wieder zur Tür.
Im Eingang tauchte das besorgte Gesicht der Mutter auf. Sie wedelte mit einem blutigen Taschentuch in ihren Händen.
„Ist etwas Schlimmes passiert?“, fragte sie sichtlich verwirrt.
Auch in diesem Fall sorgte Oma Rosa für Entwarnung.
„Captain Feelgood hat eine aufdringliche Nase blutig geschossen. Und ein kleines Mädchen hat einen großen Sieg errungen.“, fasste sie das Geschehen zusammen.
Das Fräulein „So-La-La“ nickte mit dem Kopf, als wollte sie der Mutter bestätigen, dass kein Wort davon gelogen war.
Anstatt die neugierigen Fragen der Mutter zu beantworten, drängte die Großmutter zum Aufbruch. Eilig packte sie ihre Tasche zusammen und lichtete den Anker.
Sie segelte mit einer steifen Brise im Rücken die Treppe hinunter, als das Fräulein „So-La-La“ ihrer Mutter das wertvolle Beutestück präsentierte.
„Cpatian Feelgood ist heir gewseen. Und er hat sienen Speigel zurcükgelsassen.“ Atemlos berichtete sie die Umstände, wie der Schatz in ihre Hände gelangt war.
„Er hat mienem Speigelblid beigebarcht, schön auszusheen.“, platzte das Fräulein „So-La-La“ fast vor Freude.
Sie setzte ihr strahlendstes Lächeln auf und warf sich vor dem Taschenspiegel in Pose. Nie war sie glücklicher gewesen als in diesem Augenblick. Sie konnte sich gar nicht satt sehen an ihrem Spiegelbild.
„Ich bin die Schnöste.“, jubelte sie über ihren Triumph.
Die Mutter hatte den kleinen Taschenspiegel auf den ersten Blick erkannt. Es war ein Wiedersehen nach vielen Jahren.


Ihre Hoffnung hatte sie nicht enttäuscht.
Auf den alten Sam war Verlass. Seine ruppige Art gefiel nicht jedem. Natürlich besaß er nicht das Recht, eine Nase aus nichtigem Anlass blutig zu schießen. Aber an seiner Arbeit gab es nichts auszusetzen.
Er hatte seinen Anker im richtigen Augenblick ausgeworfen und einem kleinen Mädchen beigebracht, an sich selbst zu glauben.
Für einen kurzen Moment schloss die Mutter die Augen.
Sie sah Captain Feelgood auf der Kommandobrücke seines Schiffes stehen und ins offene Meer hinaus segeln. In dem Spiegel, den er in seiner Hand hielt, spiegelte sich die Weite des Ozeans.
In beiden Elementen war eine Menschenseele auf sich allein gestellt. Wer sich dort hinwagte, musste den Mut aufbringen, sich selbst zu ertragen. Diese Tapferkeit besaßen die Allerwenigsten.
Als das Schiff von Captain Feelgood am Horizont verschwand, war nicht mehr als Augenblick vergangen. Das Fräulein „So-La-La“ hatte breitbeinig vor dem Spiegel Aufstellung genommen. Voller Stolz betrachtete sie ihr Gesicht.
Ich msus kiene Agnst mher hbaen.“, ahmte sie die Stimme von Captain Feelgood nach.
„Ich hbae dem schlmimsten alelr Fiende ins Ague geblcikt. Und bei Gtot, ich stnüde nciht heir, wnen ich nciht geseigt htäte.“
Dabei lächelte sie mit der gleichen Zuversicht in den Spiegel, mit der Captain Feelgood über die Meere fuhr.