
10.) Buch
DIE GESCHICHTE…
wie das Fräulein „So-La-La“ beinahe den Weltuntergang heraufbeschwört und auf die giftigste aller Schlangenarten trifft


Der erste Mückenstich war für das Fräulein „So-La-La“ mehr als eine schmerzhafte Erfahrung. Er brachte ihr die Erkenntnis, dass das Böse keine Frage der Größe war.
Nicht alles, das klein und niedlich aussah, erwies sich am Ende als gutartig. So war ein Floh von der Größe einer Stecknadel in der Lage, mehr Unheil anzurichten als ein riesiger Elefant.
In diese Kategorie zählte auch der Husten, der das Fräulein „So-La-La“ über Tage ans Bett fesselte.
Was als harmlose Erkältung begann, rückte auf ihrem Höhepunkt das Schicksal der Welt an den Rand des Abgrunds. Wobei das Fräulein „So-La-La“ persönlich keine Mitverantwortung traf.
Der drohende Weltuntergang hatte nichts mit mit dem verrückten Clown in ihrem Mund zu tun, der jedes Wort zu einem wüsten Buchstabensalat verdrehte. Es bestand auch keinerlei Zusammenhang mit ihren allerschlimmsten Fragen, welche in den Reihen der hochgezogenen Augenbrauen, gestreckten Zeigefinger und mitleidigen Stimmen zahllose Opfer gefordert hatten.
Das Übel wurzelte in der Leidenschaft ihrer Großmutter für Zigarren. Genauer gesagt, in dem Tabakqualm, der als graue Wolke über ihrem Kopf schwebte und sie überall hin begleitete.
Zum eigentlichen Auslöser wurde jedoch die Mutter des Fräuleins „So-La-La“. Ausgerechnet sie, die das genaue Gegenteil im Sinn hatte, setzte die verhängnisvolle Kettenreaktion in Gang, indem sie im falschen Moment das Fenster öffnete.
Als die Großmutter das Fräulein „So-La-La“ am Krankenbett besuchte und ihr mit Geschichten aus ihrem bewegten Reiseleben die langweiligen Nachmittagsstunden verkürzte, ahnte niemand, dass es es die letzten unbeschwerte Stunden sein würden.
Währenddessen ruhte die Welt in tiefer Ordnung. Nichts deutete auf die Katastrophe hin, die sich über den Köpfen zusammenbraute.
Es war später Nachmittag. In den Straßen wurden die Schatten länger. Die Bäume tanzten im Rhythmus eines sanften Windes. Und hoch am Himmel war keine einzige Wolke zu sehen.


Die Idylle nahm ein abruptes Ende, als die Großmutter aus dem Haus war und die Mutter mit einem Duftspray in der Hand durch das Zimmer des Fräuleins „So-La-La“ stürmte.
„Hier stinkt es schlimmer als in einer Zigarrenfabrik.“, begründete sie das überfallsartige Räumkommando.
Ihre Nase war nicht weniger empfindlich als ihr Geduldsfaden. Schon bei der Ankunft der Großmutter hatte sie die Witterung der verhassten Hexenschmiere aufgenommen.
Was mit schmalen Lippen und gerümpften Nasenflügeln seinen Anfang nahm, mündete in weit aufgerissenen Fenstern und Türen.
In der wohlmeinenden Absicht, den Tabakgestank der Großmutter aus dem Zimmer zu blasen, überlegte die Mutter nicht die weitreichenden Folgen ihres Tuns.
Zwar vertrieb die frische Brise, die durch das Fenster ins Zimmer wehte, den Zigarrengeruch, den die Großmutter hinterlassen hatte. Durch sie gelangte aber auch das Virus, das die Nase des Fräuleins „So-La-La“ in eine Tropfsteinhöhle verwandelt hatte, auf die Straße.
Das offene Fenster machte ihm den Weg frei, sich in Windeseile zu verteilen.
Es zerstreute sich nach Süden und nach Norden. Es flog nach Ost und nach West. Es kroch in jeden Winkel des Erdballs. Am nächsten Morgen lag die ganze Welt im Fieber.
Ab den frühen Morgenstunden überschlugen sich die Nachrichtensender mit Eilmeldungen. Im Stundentakt flimmerten die neuesten Berichte zum Verlauf der Krankheit, die mit rasender Geschwindigkeit den ganzen Globus ansteckte, über die Bildschirme.
Allerorts stiegen die Temperaturen an. Das Fieber wälzte sich quer durch die Kontinente. Europa stöhnte unter der Hitze. Afrika brannte lichterloh an allen Ecken und Enden. Amerika kochte unter einer Dampfglocke. Asien glühte wie flüssiges Eisen. Die Antarktis schmolz zu Wasser. Und in Australien verdorrte das Gras.
Wohin die Kameras auch schwenkten. Die Welt schwitzte aus allen Poren.
Die mit der Untersuchung beauftragten Wissenschaftler bereiteten die Menschen bereits auf das Schlimmste vor.
Als das Fieberthermometer des Fräuleins „So-La-La“ anstieg, setzten die Nachrichten sogleich den bevorstehenden Weltuntergang ins Programm. Alle Anzeichen sprachen für ein nahendes Ende.
Am Nordpol bröckelten die Eisberge. In der Karibik stiegen die Ozeane über die Ufer. Und in den Wüsten verwandelte sich der Sand in heiße Asche.
Mit Entsetzen blickte das Fräulein „So-La-La“ auf das Geschehen, das sich auf dem Fernsehschirm abspielte. Sie musste nicht lange überlegen, um zu begreifen, was geschehen war.


Die Welt erwärmte sich unaufhörlich. Und warum?
Bei der Antwort auf die Frage kroch ihr eine dicke Gänsehaut über den Rücken.
Weil ein Mädchen, das aufrecht unter dem Tisch stehen konnte, ohne sich den Kopf anzustoßen mit Fieber im Bett lag. Weil ihre Großmutter stinkende Zigarren paffte. Und weil eine besorgte Mutter im falschen Augenblick das Fenster sperrangelweit aufgerissen hatte.
Oma Rosa geriet außer sich vor Wut, als ihr der Verdacht zu Ohren kam, die Mitverantwortung für den aufkommenden Weltuntergang zu tragen.
„Meine Hexenschmiere kratzt vielleicht in der Nase. Aber sie hebt die Welt nicht aus den Angeln.“, richtete sie der Mutter zornentbrannt über den Telefonhörer aus.
Keineswegs müsste man deswegen das Zimmer lüften, bis die Frostbeulen von der Decke wachsen. Ganz und gar unverantwortlich wäre es, ein kleines Mädchen in dem Glauben zu belassen, es gäbe einen Zusammenhang zwischen ihrer Fieberkurve und der Erderwärmung.
Nach einem weiteren Wortwechsel, der im Ton und Inhalt nicht geeignet war, der Nachwelt erhalten zu bleiben, knallte sie den Hörer auf das alte Telefon mit der Wählscheibe.
Am nächsten Tag sendeten die Fernsehstationen im Minutentakt neue Schreckensnachrichten. Die Temperaturkurve der Welt hatte einen nie dagewesenen Höchststand erreicht.
Inmitten dieser Nachrichtenlage läutete der Vater des Fräuleins „So-La-La“ an der Wohnungstür der Großmutter Sturm.
Wie sich herausstellte, neigten die Nachrichtensprecher zur Übertreibung. Die Erkältung des Fräuleins „So-La-La“ hatte sich nicht weiter verschlechtert.
Unglücklicherweise war sie Ohrenzeuge der Auseinandersetzung zwischen der Mutter und Oma Rosa am Telefon geworden. Worauf sie den Entschluss gefasst hatte, das Essen zu verweigern, bis die Streithähne wieder miteinander versöhnt waren.
Nun wurde die Mutter von einer doppelten Sorge geplagt. Einerseits musste sie den drohenden Weltuntergang verhindern. Andererseits galt es, dem Hungertod ihrer Tochter Einhalt zu gebieten.
Vor die Wahl gestellt, entschied sie sich für das kleinere Übel und der Vater eilte zur Wohnung der Großmutter, um das Friedensangebot zu überbringen. Die Verhandlungen gestalteten sich jedoch schwieriger als gedacht.


Der Vater musste lange betteln, bis ihm Oma Rosa die Tür öffnete.
Erst das Versprechen den Morgenkaffee der Mutter zur Kräftigung ihres Geduldsfadens heimlich mit einem Schuss Likör aufzubessern, brachte den Umschwung.
Dann ging alles blitzschnell. Halb in den Schuhen und den Mantel über die Schulter geworfen, eilte die Großmutter gemeinsam mit dem Vater die Treppe hinunter.
Im Höchsttempo rasten sie mit dem Auto durch die abendlichen Straßen, wobei der Vater auf Veranlassung der Großmutter einen kurzen Halt an einer Tankstelle einlegte.
Am Krankenbett angekommen, erkannte die Großmutter ihre Enkelin fast nicht wieder.
Das arme Mädchen hatte keinen Schimmer Farbe mehr im Gesicht. In Sorge um den Zustand der Welt hatte sie sich alle Lebensfreude herausgeweint. Ihre Haut war weiß wie eine frisch gestrichene Wand.
Oma Rosa verlor keine Zeit mit langen Reden. Als erste Maßnahme scheuchte sie die Mutter sie unter dem Vorwand, eine Kanne Tee für sie aufzusetzen, aus dem Zimmer. Kaum war sie mit dem Fräulein „So-La-La“ allein im Zimmer, fingerte sie einen Schokoriegel, den sie bei sie dem Zwischenstopp an der Tankstelle gekauft hatte, aus ihrer Handtasche hervor.
„Die Hungerkur ist zu Ende.“, lachte sie.
„Zuerst retten wir dich und dann den Rest der Welt.“
Die bloße Ankündigung reichte aus, um ein Lächeln in das Gesicht des Fräuleins „So-La-La“ zu zaubern.
Mit einem halben Schokoriegel im Bauch hatte sich ihr Zustand soweit gebessert, dass sie aufrecht im Bett sitzen konnte.
Wieder bei Kräften, plapperte sie sich den Kummer der letzten Tage von der Seele.
„Es ist miene Schlud, dsas die Wlet utnerghet.“
Die Großmutter setzte eine entrüstete Miene auf. Die geballte Faust vor ihrem Gesicht brachte zum Ausdruck, was dem Urheber dieser Verleumdung drohte, sollte sie ihn in die Finger bekommen.
„Wer behauptet solchen Unsinn?“, knurrte sie im Tonfall einer gereizten Dogge.
Allzu gern hätte sie eine hochgezogene Augenbraue gerupft, einen gestreckten Zeigefinger krumm gebogen oder eine mitleidige Stimme mit einem scharfen Ton zum Schweigen gebracht.
Aber dieses Mal hatten nicht die üblichen Verdächtigen ihre Finger im Spiel. Der Gegner, mit dem sie es zu tun bekam, war den einfältigen Störenfrieden um das Tausendfache überlegen.


Es war die Stimme aus den Nachrichten.
„Mien Feiber verbernnt die Wlet.“, schluchzte das Fräulein „So-La-La“.
Mit der schuldbewussten Miene eines auf frischer Tat ertappten Übeltäters zog sie das Fieberthermometer unter ihren Achseln hervor.
Die dunkle Quecksilbersäule lag um zwei Grad höher als ihre Normaltemperatur.
Der Anstieg entsprach genau dem Wert, der in den Nachrichten als Ursache genannt wurde, warum es auf der Welt an allen Ecken und Enden dampfte.
Dem Fräulein „So-La-La“ schwante ein noch viel größeres Unheil.
„Ich lsase den Nrodpol schemlzen.“, glaubte sie allen Ernstes, als Auslöser einer neuen Sintflut in die Geschichte einzugehen.
Die Großmutter geriet in Rage über diesen Unsinn.
„Ein Welt geht nicht unter, weil ein kleines Mädchen das Bett hüten muss.“, zürnte sie den Nachrichtensprechern, die derlei Feinheiten nicht zu unterscheiden wussten.
„Die Dinge liegen ein bisschen komplizierter.“
Die Großmutter schob ihren Mund dicht an das Ohr des Fräuleins „So-La-La“.
„Die wahren Verursacher sind die Motoren.“, murmelte sie geheimnisvoll.
Dabei rümpfte sie verächtlich die Nase.
„Wleche Motroen?“, stolperte es aus dem Mund des Fräuleins „So-La-La“ .
Der Blick der Großmutter sprang zur Tür, als wollte sie sich vergewissern, dass hinter dem Schlüsselloch keine ungebetenen Ohren lauschten.
Mit dem Zeigefinger auf den Lippen deutete sie ihrer Enkelin still zu sein.
„Die Menschen wissen nichts davon. Es ist ein Geheimnis.“, flüsterte sie verschwörerisch.
In den folgenden Minuten verschlug es dem Fräulein „So-La-La“ den Atem. Denn aus dem Mund der Großmutter hörte sie schier Unglaubliches.
„Die Welt war ohne die Motoren glücklicher dran.“, berichtete Oma Rosa.
„Die Entfernungen wurden in Tagesmärschen gemessen und nicht in Stundenkilometern. Wer etwas mitzuteilen hatte, schrieb es auf Papier und klebte eine Marke auf einen Umschlag. Es dauerte oft Tage, bis ein Brief seinen Empfänger erreichte. Und die gleiche Zeitdauer nahm die Antwort in Anspruch.


In einer Welt, in der die Menschen zu Fuß gingen und die Briefe mit der Post kamen, traten die Gewinnkurven der Fabriken und Banken auf der Stelle. Sie wuchsen nicht mehr in die Höhe, sondern hingen wie die Äste einer Trauerweide zu Boden.
Bei ihrem Anblick gerieten die Generaldirektoren in Panik. In Windeseile griffen sie zu den Telefonhörern und riefen eine Konferenz ein, wo sie mit kleinen Hämmerchen besorgt auf die Tische klopften.“
Oma Rosa gönnte sich eine kurze Pause, um die trockene Kehle mit einem Schluck aus ihrem Likörfläschchen zu befeuchten.
„Wenn diese Kerle an einem Tisch sitzen, sind sie nicht voneinander zu unterscheiden.“, schimpfte sie mit frisch geölter Stimme.
„In ihren dunklen Anzügen gleichen sie sich wie ein Fisch dem anderen. Über ihre Gesichter huscht kein Lächeln. Zu ernst sind ihre Geschäfte. Zu schwer wiegen ihre Unterschriften. Dabei haben sie keine Kriege, sondern bloß die Buchhaltung zu führen.“
Die Großmutter machte kein Hehl darüber, was sie von diesem Menschenschlag hielt. Sie hasste alles, was nach Konserve roch. Und die Generaldirektoren in ihren Glastürmen rochen wie Fische aus der Dose.
„Die feinen Herren bilden sich mächtig etwas darauf ein, große Reden zu schwingen.“, tobte die Großmutter in Höchstform.
„Aber sobald ihre Gewinnkurven zusammenbrechen, fallen sie in das gleiche Gekreische wie ein Kind, dessen Lieblingsspielzeug unter das Bett gerollt ist.“
Ihre Stimme kochte über vor Wut. Sie musste dringend frisch geölt werden.
„Wie gnig die Konfreenz aus?“, nutzte das Fräulein „So-La-La“ die Getränkepause für eine Zwischenfrage.
Die Mundwinkel von Oma Rosa türmten sich zu einem steilen Hügel auf.
„Als sich die Gewinne nicht erholten, einigten sich die Direktoren der Banken und Fabriken darauf, die allerbesten Köpfe zu Rate zu ziehen.“, fasste sie das Ergebnis zusammen.


Auf der Welt geschahen die allerwunderlichsten Dinge, dachte sich das Fräulein „So-La-La“.
In Afrika mussten die Kinder barfuß laufen und Hunger leiden, weil keine Konferenz für sie tagte. Wenn aber irgendwo eine Gewinnkurve einknickte, wurde sofort nach Leuten mit einem Doktortitel telefoniert.
Vor ihren Augen tauchte eine kränkelnde Gewinnkurve auf, an deren Krankenbett sich unzählige Doktoren drängelten und ernste Blicke austauschten, als ginge die Welt mit ihr zugrunde.
„Hbaen die Äzrte enie Mdeizin gefnuden ?“, sorgte sie sich zum Schein um die fallenden Gewinne der Generaldirektoren.
Die Großmutter verneinte.
„Dafür war es zu spät. Die Krankheit befand sich bereits in einem fortgeschrittenen Stadium.“
„Dnan snid aus den Gneraldriketoren weider amre Leute gewroden?“, beschwor das Fräulein „So-La-La“ den Ruin der Banken und Fabriken herauf.
Abermals winkte die Großmutter ab.
„Ihr wehleidiges Geplärre war für die Welt unerträglich.“, fauchte sie.
In der Tat traf der Verlust ihrer Gewinnkurven die Generaldirektoren bis ins Mark. Nachdem die klügsten Köpfe den Schaden untersucht hatten, schrieben sie darüber einen langen Bericht.
„Ich habe selbst darin geblättert.“, steigerte die Großmutter die Spannung.
Aber was hatten die Doktoren herausgefunden?
Dem Fräulein „So-La-La“ pochte vor Aufregung das Herz bis zum Hals.
Oma Rosa wählte jedes Wort mit Bedacht, als wollte sie ein düsteres Geheimnis in erträgliche Portionen aufteilen.
„Es lag an der Erdachse.“, fasste sie den Inhalt des Berichtes zusammen.
„Die Konstruktion war hoffnungslos veraltet. Die Welt drehte sich zu langsam, um die Gewinnkurven der Fabriken und Banken wieder ankurbeln zu können.


Es blieb ihnen eine einzige Möglichkeit, ihre Gewinne zu steigern. Sie mussten die Welt beschleunigen.“
Das Fräulein „So-La-La“ dachte an den alten Globus, der in der Dachkammer ihres Vaters verstaubte. Die fußballgroße Erdkugel war an zwei Punkten mit einer starren Halterung verbunden, an der sich die Kugel im Kreis frei bewegte. Wenn man sie mit der Hand anschubste, drehte sie sich in einem schwindelerregenden Tempo um die eigene Achse.
Nicht auszumalen wagte sich das Fräulein „So-La-La“ die Vorstellung, in einer solchen Welt leben zu müssen. Durch die schnelle Drehung würde der Boden unter ihren Füßen schaukeln wie ein Schiff im Sturm. In den Häusern würden ständig die Möbel umkippen und die Bilder von den Wänden fallen.
In den oberen Stockwerken müssten sich die Menschen dicke Seile um die Bäuche binden, damit sie nicht aus den Fenstern stürzten.
Das Fräulein „So-La-La“ zweifelte keine Sekunde an der Entschlossenheit der Fabrikdirektoren, alle Hebeln in Bewegung zu setzen und Knöpfe zu drücken, die das Wachstum ihrer Gewinnkurve beschleunigten.
Für sie spielte es keine Rolle, ob die Teller und Gläser von Tischen rutschten oder jemand aus dem achten Stock auf die Straße stürzte, weil er vergessen hatte, sich an einem Seil festzuknoten. Sie gaben sich erst zufrieden, wenn ihre Gewinne wieder in schwindlige Höhen stiegen.
Die Zornesfalten im Gesicht von Oma Rosa bestätigten die düsteren Vorahnungen des Fräuleins „So-La-La“. Die Kerle hatten es tatsächlich getan.
Aber wie war es ihnen gelungen, die Geschwindigkeit der Erdkugel zu erhöhen, ohne dass den Menschen jeden Morgen das Frühstücksgeschirr um die Ohren flog?
„Sie haben Sonderschichten in ihren Fabriken angeordnet. Die besten Ingenieure mussten sich Tag und Nacht die Köpfe zerbrechen.“, schilderte die Großmutter das Unfassbare.
Mit schreckensbleichem Gesicht starrte das Fräulein „So-La-La“ zum Fenster hinaus. Auf der Straße vor dem Haus brausten die Autos vorbei. Am Horizont tauchte die dunkle Silhouette eines Schnellzuges auf. Hoch am Himmel eilte ein Jumbojet Wind und Wolken davon.


Wie hatte sie so blind sein können?, erschrak sie an sich selbst.
Wenn man genau hinsah, konnte man es mit freiem Auge erkennen. Es war kein Geheimnis. Alle wussten davon. Die Welt drehte sich jedes Jahr schneller im Kreis.
„Eines Morgens wurden die Menschen von einem gewaltigen Brummen aus dem Schlaf gerissen.“, polterte die Großmutter.
„Es war der Tag, an dem sie die Motoren gestartet haben. Seither sind sie überall. Sie haben sich wie ein Virus über die ganze Welt verbreitet.“
Für die Generaldirektoren der Fabriken und Banken brachen herrliche Zeiten an. Ihre Gewinnkurven schossen schneller in die Höhe als die Fieberthermometer zur Grippezeit.
Das Gesicht von Oma Rosa färbte sich dunkelrot. Die Zornesfalten auf ihrer Stirn wölbten sich zu einem Riesengebirge hoch.
„Man kann ihnen nicht mehr entkommen. Zu Lande sind es die Straßenmotoren. Auf dem Meer sind es die Wassermotoren. Über den Wolken sind es die Luftmotoren.“, brüllte sie gegen den Lärm in ihren Ohren an.
An dieser Stelle kippte die Stimmung des Fräuleins „So-La-La“. Irgendetwas stimmte nicht an der Geschichte. Ihr Zeigefinger juckte nervös. Sie bekam plötzlich Lust, laut loszulachen.
Oma Rosa hatte sich einen bösen Scherz mit ihr erlaubt. Die Motoren waren ein Segen für die Menschen. Vor ihrer Erfindung war das Leben ein mühsamer Fußweg gewesen.
Seit die Motoren den Takt der Welt bestimmen, dauerte eine Reise um die Welt nicht mehr Wochen und Monate. Man hatte kaum die Zeit, die Frühstückszeitung durchzublättern. Schon saß man wieder zuhause auf dem Sofa.
Die Motoren hatten nicht nur die Entfernungen schrumpfen lassen. Sie hatten die Welt bequem gemacht.
Ihrem verdienstvollem Wirken verdankten es die Menschen, dass im Haus das Licht brannte, die Waschmaschine lief, das Geschirr gespült wurde und die Heizung nicht kalt wurde.
Vielleicht war ihre Verdauung für empfindliche Nasen etwas gewöhnungsbedürftig.


Manche der Motoren furzten eine Luft durch den Auspuff, die schlimmer roch als der Zigarrenqualm der Großmutter. Andere schlugen einen ohrenbetäubenden Krach, dass man das eigene Wort nicht mehr verstand. Doch zumeist genügte es, am Vergaser ein paar Schrauben zu drehen, damit sie zur Vernunft kamen.
An den Motoren ging die Welt bestimmt nicht zugrunde. Ohne sie würde sie stillstehen.
Oma Rosa schüttelte energisch den Kopf über diesen Unsinn.
„Früher war die Welt eine einfache Apparatur gewesen.“, schimpfte sie.
„Nichts reiste schneller als ein Sandkorn im Wind. Nichts flog höher als eine Wolke am Himmel. Und nichts tauchte tiefer ins Wasser als ein Stein.
Mit der Erfindung der Motoren ist alles durcheinander geraten.
Die Großmutter hatte sich heiß geredet. Das Blut in ihren Adern brodelte nahe dem Siedepunkt. Ihre Nasenlöcher sogen die Luft mit der Kraft eines Doppelvergasers ein.
„Das größte Übel steht den Menschen noch bevor.“, kreischte sie nach Atem ringend.
Ihr Gesicht färbte sich dunkelrot, als sie die Machenschaften der Motoren anprangerte.
Woher kam das Licht, das mit rasender Geschwindigkeit in von Glühbirne zu Glühbirne sprang, sobald man den Lichtschalter drückte? Wie stellten es die Nachrichtensprecher im Fernsehen an, in allen Wohnzimmern gleichzeitig aufzutauchen? Und warum war es möglich, ohne Kabel mit einem Menschen zu telefonieren, der am anderen Ende der Welt lebte?
In den Ausführungen der Großmutter blieb kein Platz für Zweifel. Die Welt hatte ihre maximale Höchstgeschwindigkeit bereits überschritten. Es war nur noch eine Frage der Zeit, bis sie aus der Kurve flog. Und die Schuld daran trugen die Motoren.
„Willst du erfahren, wie sie es anstellen, dass niemand diese Höllenfahrt bemerkt?“, fragte sie mit einem verschwörerischen Blinzeln in den Augen.
Vor lauter Aufregung brachte das Fräulein „So-La-La“ keinen Ton über die Lippen. Als Zeichen ihrer Zustimmung wippte sie mit dem Kopf wie ein Schaukelstuhl auf und ab.


Die Großmutter atmete tief durch.
„Die Motoren haben die Geschwindigkeit unsichtbar gemacht.“, behauptete sie.
Fassungslos lauschte das Fräulein „So-La-La“ den Ausführungen.
Der Trick, den sich die Ingenieure ausgedacht hatten, um die Erdachse zu beschleunigen und die Gewinnkurven der Banken und Fabriken zum Wachsen zu bringen, war leicht zu durchschauen, wenn man Bescheid wusste.
Man musste nichts weiter tun, als bei einer Fahrt mit dem Auto auf den Straßenrand zu achten.
Sobald sich die Wagen im gleichen Abstand zueinander fortbewegten, wurde die Geschwindigkeit unsichtbar. Egal mit welchem Tempo sie dahinraste. Für alle, die in den Wagen saßen, schien sie stillzustehen. Ungeduldig gab man den Vordermann ein Zeichen, er möge auf das Gaspedal treten, um vorwärts zu kommen. Währenddessen klebten die nachkommenden Wagen im Rückspiegel fest, wie ein Bild, das an der Wand hing.
Mit gestikulierenden Armen schilderte Oma Rosa das verbrecherische Treiben der Motoren. Die finstere Miene in ihrem Gesicht brachte deutlich zum Ausdruck, was sie von den Ingenieuren hielt, die dieses Kunststück vollbracht hatten.
„Sie haben eine halsbrecherische Rennbahn aus der Welt gemacht.“, nahm sie sich kein Blatt vor dem Mund.
Die Stimme der Großmutter begann zu krächzen. Ein hastiger Schluck aus dem Likörfläschchen in ihrer Handtasche glättete die rauen Töne.
Allerdings wäre ihnen ein folgenschwerer Fehler unterlaufen, berichtete sie weiter.
In der Eile hatten die Ingenieure vergessen, die Landschaft festzuschrauben. Sie flog einfach an den Fenstern vorbei. Als sie den Irrtum bemerkten, war es zu spät.
Das Fräulein „So-La-La“ zeigte sich entsetzt über die Weise wie es den Motoren gelungen war, die wahre Geschwindigkeit der Welt vor den Menschen zu verschleiern.
Dabei genügte eine kurze Fahrt über die Autobahn, um es mit eigenen Augen zu sehen.
Während draußen die Landschaft vorbei raste, rührte man sich selbst nicht von der Stelle.
In den Augen der Großmutter hatte die Welt ihre maximale Höchstgeschwindigkeit längst überschritten. Es war nur noch eine Frage der Zeit, bis die Welt aus der Kurve flog.
Die Zeichen dafür waren überall zu sehen. Europa stöhnte unter der Hitze. Australien brannte lichterloh. Amerika kochte unter einer Dampfwolke. Asien glühte wie flüssiges Eisen. In der Antarktis schmolz das Eis. Und in Afrika verdorrte das letzte grüne Gras.
Was immer auch mit der Welt passierte. Es hatte bestimmt nichts damit zu tun, dass ein kleines Mädchen mit Fieber das Bett hüten musste.
Die Großmutter hatte keine Zeitungen und keine Nachrichtensprecher nötig, um die wahre Ursache für das Unheil, das die Menschen bedrohte, in einem einzigen Satz zusammen zu fassen. Sie musste dafür nichts weiter tun, als sich zu erinnern.
„Als ich ein kleines Mädchen war, stand die Landschaft still, wenn man aus dem Fenster blickte.“, sagte sie.


Dem Fräulein „So-La-La“ wurde schummrig vor Augen. Sie wusste was in einer Welt passierte, wenn niemand der Geschwindigkeit eine Grenze setzte.
Manchmal erlaubte sie sich einen Spaß mit dem Globus im Dachzimmer des Vaters. Sie drehte ihn solange um die eigene Achse, bis sich die Kontinente und Ozeane zu einem übergangslosen Geschmiere aus Blau- und Brauntönen verschmierten und kein Unterschied zwischen Land und Meer auszumachen war.
Die Motoren waren auf dem besten Weg dorthin. Die Welt drehte sich mit jedem Tag schneller. Sie flog den Menschen um die Ohren, ohne dass sie es bemerkten.
Wenn die Sonne abends unterging, war die Welt bereits eine andere, als sie es am Morgen gewesen war. Schon am nächsten Tag, würde sie keine Ähnlichkeit mehr haben mit der Welt am Abend zuvor.
Jetzt erklärte sich für das Fräulein „So-La-La“ auch, warum die Fernsehapparate von morgens bis abends liefen. Wie sollten die Menschen sonst erfahren, wie es gerade um die Welt stand.
Die Generaldirektoren der Banken und Fabriken konnten sich zufrieden in ihre wuchtigen Ledersessel zurücklehnen. Sie hatten keinen Grund mehr, mit einem kleinen Hammer auf die Tischplatte zu schlagen. Ihre Gewinnkurven gediehen prächtig.
Die Ingenieure hatten gute Arbeit geleistet. Durch ihre Motoren drehte sich die Welt schneller vorwärts denn je. Und das Allerbeste war, dass sich niemand sich über die Geschwindigkeit beklagte. Sie war unsichtbar geworden.
Mit der Traurigkeit eines kalten Herbsttages in den Augen blickte das das Fräulein „So-La-La“ aus dem Fenster auf die Straße hinunter.
Die Menschen in den Automobilen ahnten nichts vom falschen Spiel ihrer Motoren. Mit gelangweilten Gesichtern saßen sie hinter den Lenkrädern und ließen sich vom Strom mitreißen.
Vereinzelt tänzelte eine nervöse Hand über die Hupe. Ansonsten hatten sie nichts Besseres zu tun, als mit dem Zeigefinger das Bohrloch in ihrer Nase zu vergrößern.
Als die Mutter mit dem Tee ins Zimmer zurückkam, hüpfte ihr das Fräulein „So-La-La“ quicklebendig entgegen. Ungläubig blickte sie die Großmutter an.


„Manchmal haben die Motoren auch ihre guten Seiten.“, redete sich Oma Rosa auf den Vater heraus, der mit seinem Wagen an einer Tankstelle Halt gemacht hatte.
„Sie bringen einen an Orte, wo es Schokolade zu kaufen gibt.“
Die Mutter glaubte kein Wort davon.
„Wahrscheinlich hast du ihr wieder mit einer von deinen verrückten Geschichten den Kopf verdreht.“, seufzte sie.
Sie stellte den Tee auf den Tisch und verschwand zur Tür hinaus, um der Großmutter Zeit zu geben, die Geschichte zu Ende zu erzählen, die ein kleines Mädchen von einer Schuld befreite, die gar nicht auf ihren Schultern lastete.
Als Oma Rosa eine Stunde später das Zimmer verließ, war das Fräulein „So-La-La“ eingeschlafen. Auf ihren Wangen schimmerte ein zartes Rosa. Innerhalb weniger Stunden sprang ihre Temperatur auf den normalen Wert zurück.
Merkwürdigerweise verschwand mit dem Fieber auch der angedrohte Weltuntergang aus den Nachrichten.
Am Nordpol froren die Eisberge mit dem einbrechenden Winter wieder über Monate fest. In der Karibik zogen sich die übergelaufenen Ozeane auf ihr altes Ufer zurück. Und in den Wüsten kühlte eine Regenfront den heißen Sand ab.
Die Welt drehte sich im gleichen Tempo weiter. Die Menschen gingen ihren gewohnten Geschäften nach, als sie hätten sie die Nachrichten von gestern aus ihrem Gedächtnis gelöscht.
Genauso wie sie längst vergessen hatten, dass die Landschaft früher stillstand, wenn man aus dem Fenster blickte.
Am nächsten Tag wachte das Fräulein „So-La-La“ mit einem riesigen Loch im Bauch auf. Ihr Magen brummte wie ein Bär nach einem langen Winterschlaf.
Aber ihr wahrer Hunger hatte nichts mit dem Essen zu tun. Nach den langweiligen Tagen im Bett wurde es Zeit, die versäumten Einkaufsbummel mit ihrer Mutter nachzuholen.
Ungeduldig scharrte das Fräulein „So-La-La“ mit den Füßen bereits in der offenen Tür, während die Mutter in ihren Mantel schlüpfte.
Über jeder Einkaufsfahrt schwebte ein Hauch von Ungewissheit. Nie ließ sich mit Bestimmtheit vorhersagen, welchen Herrlichkeiten man unerwartet begegnete. Und was gab es Schöneres als ihren Verführungen nachzugeben.
An diesem Tag herrschte in den engen Gängen des Supermarktes ein besonderes Gedränge. Nach dem abgesagten Weltuntergang hatten die Menschen alle Hände voll zu tun, die leeren Kühlschränke aufzufüllen.
Das Fräulein „So-La-La“ benötigte alle Sinne, um nicht unter die Räder der herumschwirrenden Einkaufswagen zu geraten, die aus jeder Richtung an ihr vorbei schossen. Mit wohligem Schauer genoss sie das faszinierende Schauspiel.


Innerhalb weniger Minuten verwandelten sich friedliebende Bürger, in wilde Einkaufskrieger, die mit riesigen Streitwägen zu einem Kampfgetümmel rüsteten, das keinen Pardon kannte.
In langen Kolonnen bewegten sie sich durch die engen Gänge. Wie riesige Kräne schwenkten ihre Arme zwischen den Regalen hin und her und schaufelten die Einkaufswagen voll.
An manchen Stellen war das Getümmel unüberschaubar. Jeder kämpfte gegen jeden um Rabatte und Sonderangebote. Eifersüchtig wurde jedes Überholmanöver beäugt. Allerorts ritten Nachzügler wilde Attacken. Da und dort fuhren Ellbogen aus, traten Schuhspitzen gegen Schienbeine und hieben Einkaufskörbe aufeinander ein.
Seite an Seite mit ihrer Mutter kämpfte das Fräulein „So-La-La“ an vorderster Front. Mit ihrer Größe schlüpfte sie an den Wühltischen leichtfüßig unter den Beinen der Gegner hindurch. Dicht gefolgt von ihrer Mutter, die sich den Weg unter Einsatz ihrer Handtasche freiboxte. Mit der kurzen Griffschale schaltete sie ihre Widersacher im Nahkampf auf. Der Schulterriemen kam bei größeren Distanzen zum Einsatz.
Die Taktik variierte nach Art der Sonderangebote. Bei Konserven und Tiefkühlpizzas schlug eine einfache Drohgebärde die Konkurrenz bereits in die Flucht. In der Abteilung Brot und Gebäck nahmen die Gefechte an Heftigkeit zu. Am Allerhärtesten tobte der Kampf an der Fleisch- und Wursttheke.
Selbst kampferprobte Einkaufskrieger benötigten Nerven aus Stahl, um geduldig mit anzusehen, wie ein dicker Schinken für den Vordermann langsam in dünne Scheiben geschnitten wurde.
Als das Fräulein „So-La-La“ mit ihrer Mutter dort ankam, hatte sich bereits eine lange Warteschlange gebildet. Bald rumorte es ungeduldig aus allen Richtungen. Während die Verkäuferinnen an den Schneidemaschinen anfingen, um ihr Leben zu fürchten, schwoll die Unruhe zu einem lauten Gezische an.
Aus den hinteren Reihen reckten sich die ersten Köpfe hoch.
„Kann das nicht schneller gehen?“, zischte es im Chor.


Von ihren Artgenossen angestachelt, stachen immer mehr Schlangen- häupter aus der Menge hervor. Der Lärm steigerte sich zum Tumult.
Mit blutiger Schürze trat der Fleischer aus seiner Kühlkammer. Beim Anblick der zischenden Schlangenköpfe zog er eine Miene, als würde er dem Tod ins Auge blicken. Die Verkäuferinnen feige im Stich lassend, rettete er sich Hals über Kopf durch eine Fluchttür zum Ausgang.
Die Geschäftsleitung meldete sich über Lautsprecher zu Wort. Sie kündigte neue Angebote an, um die bedrohlich gegen die Wursttheke drückende Schlange zu zerstreuen. Zusätzlich eilte frisches Personal heran, das die freien Wurstschneidemaschinen besetzte.
Mit vereinten Kräften gelang es, die Warteschlange in Zaum zu halten. Nach und nach verschwanden ihre Köpfe wieder unsichtbar in der Menge. Das Zischen verstummte allmählich.
Nach wenigen Minuten endete der Spuk so unvermittelt wie er begonnen hatte. Die Verkäuferinnen blickten in freundliche Gesichter, die höflich nach Fleisch und Wurst verlangten. Nach geraumer Zeit wagte sich auch der Fleischer in seine Kühlkammer zurück.
Das Fräulein „So-La-La“ brauchte lange, bis sie sich von ihrem Schrecken erholt hatte. Es war kein Kindergeburtstag, der gefährlichsten aller Schlangenarten zu begegnen. Wer eine Warteschlange herausforderte, stand Auge in Auge gegen einen vielköpfigen Drachen, der keinen Pardon schenkte.
In der gleichen Nacht kehrte das Fräulein „So-La-La“ in den Supermarkt zurück. Im Schlaf verwandelte sie sich in eine Einkaufskriegerin, die mit ihrem Streitwagen all die Kostbarkeiten zu eroberte, die für ein Mädchen, das aufrecht unter dem Küchentisch stehen konnte, ohne mit dem Kopf anzustoßen, unerreichbar blieben.
Ihre Arme hatten sich in riesige Kräne verwandelt, die bis in die obersten Regale hinauf reichten.
Es war ein herrlicher Traum, der noch herrlicher zu Ende ging. Als das Fräulein „So-La-La“ mit einem vollen Einkaufwagen den Kassenbereich erreichte, hatte er sich in eine riesige Bühne verwandelt.
Mächtige Scheinwerfer strahlten von der Decke und leuchteten jeden Winkel aus.
Aus allen Richtungen strömten Besucher heran und besetzten die bereit gestellten Stühle. Bald war der Saal bis zur letzten Sitzreihe gefüllt.


Auf der ganzen Länge der Bühne waren riesige Scannerkassen platziert. Schmallippige Kassierinnen traten aus dem Dunkel und nahmen ihre Plätze auf den unbequemen Drehsesseln hinter dem Förderband ein. Das Getue und Gerücke zwischen den Stühlen erinnerte an ein Orchester, das mit angemessenem Ernst den Auftritt des Dirigenten erwartete.
Ein Raunen ging durch die Menge, als ein Scheinwerfer die Gestalt des Maestros erfasste.
Würdevoll mit weißem Hemdkragen zum schwarzen Frack schritt er durch die Reihen des Publikums ans Dirigentenpult.
Seltsamerweise hatte er keinen Taktstock bei sich. Stattdessen mühte er sich mit einem vollen Einkaufswagen ab, den er vor sich her schob.
Mit einer Handbewegung löschte er das Gemurmel in den Sitzreihen aus. Ein strenger Blick brachte die letzten Störenfriede zum Schweigen. Es herrschte Totenstille im Raum, als seine Arme über dem Einkaufswagen schwebten. Die Herausforderung hätte nicht größer sein können. Der Wagen war bis zum Rand mit Dosen, Flaschen und Konserven beladen.
Eine Packung, die aufplatzte, ein Glas, das in Scherben zerbrach, eine Konserve, die sich an den Ecken verbeulte, und das Konzert war verdorben.
Eine enttäuschte Menge würde zum Ausgang drängen und das Eintrittsgeld an der Abendkasse zurückfordern.
Die Luft war zum Zerreißen gespannt. Auf dem Höhepunkt der Spannung ging ein Ruck durch den Körper des Maestros. Seine Hände bohrten sich mit dramatischer Wucht in die Tiefe des Einkaufswagens. Dem Publikum stockte der Atem.
Der Beginn glich dem Tanz auf einem feuerspuckenden Vulkan.
Mit einer nie gesehenen Meisterschaft trieb er die Aufführung dem Höhepunkt entgegen. In seinen Händen verwandelten sich sperrige Dosen, Flaschen und Konserven zu willfährigem Treibgut. Mal tänzelten sie im Spiel seiner Finger an der Oberfläche. Mal sanken sie langsam auf den Grund des Einkaufswagens zurück.
In unnachahmlicher Grazie drängten sich die Käseecken an die Jogurtbecher, rieben sich Margarinewürfel an Marmeladengläsern.


Unaufhaltsam brach sich die Dauerwurststange zwischen zwei Gurkengläsern ihre Bahn. Innerhalb weniger Augenblicke tobte im Einkaufswagen ein ozeanischer Sturm.
An einer Ecke züngelte eine mächtige Salatwelle hoch. An anderer Stelle purzelten Konserven durcheinander. Flaschen schlugen klirrend aufeinander ein.
Der Maestro bot sein ganzes Können auf, um den Klangteppich unter Kontrolle zu halten. Mit dem Schweiß des Genies auf der Stirn inszenierte er ein lärmendes Fest. Kein Zittern einer Hand, kein nachlässiges Augenblinzeln und kein unkontrolliertes Nasenjucken gefährdeten seine Kunst.
Nachdem sich die Wogen des ersten Aufruhrs geglättet hatten, folgte der eigentliche Höhepunkt des Konzertes.
An der Schwelle zwischen Wahn und Genie dirigierte der Maestro den Inhalt des Einkaufswagens auf die Förderbänder.
In der von ihm bestimmten Reihenfolge schwebten die Milchpackungen, Fischkonserven, Senftuben, Wurststangen und Saftflaschen den Scannerkassen entgegen, wo die Kassierinnen bereit standen, ihren Strichcodes Piepstöne zu entlocken, die das schrille Getöse in eine virtuose Klangwolke verwandelten.
Die Musik schmeichelte sich in die Ohren des Publikums wie ein Klang aus einer anderen Sphäre. Es war die Siegesfanfare aller Einkäufer, untermalt von den vielstimmigen Seufzern der Kassierinnen.
Als das letzte Gurkenglas mit der Leichtigkeit einer zerbrechlichen Ballerina das Ende des Laufbandes stieß und der finale Piepser des Strichcodes langsam ausklang, hatte der Maestro ein neues Meisterwerk geschaffen.
Glückselig rissen die Kassierinnen die weißen Streifen ab, welche die Kassen ausspuckten und schwenkten sie zum Zeichen des Triumphes über ihre Köpfe. Auf ihm war in langen Zahlenreihen die Musik des Maestros für die Nachwelt festgehalten.
Nun hielt es das Publikum nicht länger auf den Stühlen. Tosender Applaus brandete auf.


Die Begeisterung war ohnegleichen. Zugaben wurden eingeklatscht. Nicht enden wollende Bravissimorufe brandeten aus unzähligen Kehlen.
Der Maestro wischte sich mit einem Taschentuch den Schweiß von der Stirn. Die Anstrengung stand ihm ins Gesicht geschrieben. Im Bewusstsein seines Erfolges hob er die Arme in die Höhe. Augenblicklich fiel der Saal wieder in eine Totenstille zurück.
Was nun folgte, war ein verzückendes Fingerspiel, das der Maestro aus dem Nichts zauberte. Auch dieses Minimum an Virtuosität entlockte den Scannerkassen Ton-miniaturen in allerhöchster Perfektion. Beglückt lauschte das Publikum der Schokoriegel- und Kaugummizugabe, die der Maestro mit unnachahmlicher Leichtigkeit aus dem Ärmel schüttelte.
Der Erschöpfung nahe verbeugte er sich vor seinem dankbaren Publikum. Mit bescheidener Geste reichte er den tosenden Beifall an die erschöpften Kassierinnen weiter.
Im gleißenden Licht der Scheinwerfer konnte man erkennen, wie klein gewachsen er war. Mühelos verschwand sein Kopf bis über das Kinn unter dem breiten Hemdkragen. Der Frack hing ihm schlaff von den Schultern. Die flatternde Hose an seinen Beinen hatte die traurige Erscheinung eines Fahrradschlauches, dem ein Nagel zum Verhängnis geworden war.
Als das Haupt des Maestros von den Scheinwerfern erfasst wurde, ging ein Raunen durch den Saal. Das Licht beleuchtete ein kleines Mädchen, das aufrecht unter dem Tisch stehen konnte, ohne sich den Kopf anzustoßen.
Mit dem glückseligen Lächeln des Maestros auf den Lippen streckte das Fräulein „So-La-La“ im Schlaf ihre Arme in die Höhe. Für einen kurzen Moment blinzelte sie mit den Augen, um sich zu vergewissern, dass noch kein Morgen graute. Dann drehte sie sich zur Seite und kehrte in ihren Traum zurück, wo sie der Beifall eines begeisterten Publikums empfing.