
11.) Buch
DIE GESCHICHTE…
wie das Fräulein „So-La-La“ einem hinkenden Zwerg begegnet, der langsam im Kreis läuft und vor dem es trotzdem kein Entkommen gibt

Von allen Geschichten, die dem Fräulein „So-La-La“ zu Ohren kamen, war die Geschichte der Zeit die Allerseltsamste. Sie war wie die Luft zum Atmen. Man konnte sie weder sehen noch anfassen. Trotzdem war sie allgegenwärtig.
Die Zeit verstrich in Sekunden, Minuten und Stunden. In Tagen, Wochen und Jahren. Sie verging in den Jahreszeiten, Kalenderblättern und Küchenuhren. In den Zeitungen, Büchern und Geschichten.
Aber am Allermeisten verging die Zeit in den Gesichtern der Menschen.
Sie musste uralt sein, weil sie seit dem Anfang aller Tage existierte. Merkwürdigerweise wurde ihr Alter erst dann sichtbar, wenn sie vergangen war. Aus der Entfernung von Jahrhunderten war sie ein altersschwacher Greis, der in verstaubten Büchern und alten Gemäuern hauste.
Aber mit jedem Jahr, das die Zeit näher an die Gegenwart heranrückte, wirkte sie bunter und lebendiger. Ihre Gestalt wurde kräftiger, das Stimmengewirr klarer und die Garderobe, die sie trug, vertrauter.
Auf Augenhöhe waren alle Altersplagen wie fortgeblasen. Ihr Gehabe glich wieder dem Überschwang eines kraftstrotzenden Jünglings. Und ihre Zuversicht wurde unendlich.
Die Zeit stellte viele Moden und Geschmäcker zur Schau. Geduldig ertrug sie jedes Kleid, das man ihr umhängte.
In einem Zeitalter marschierte sie in feldbraunen Uniformen und eisernen Helmen auf dem Kopf. In einem anderen hüpfte sie in grellen Kostümen und langen Haaren durch die Straßen.
Nichts an ihr war von Dauer. Was eben als der letzte Schrei gegolten hatte, landete plötzlich als nutzlos gewordener Trödel in den Schubladen.
Über ihren Charakter gingen die Meinungen stark auseinander. Die einen schimpften ihn wankelmütig und leichtfertig. Die anderen lobten seine Stärke und Gerechtigkeit. Am Allerheftigsten tobte der Streit über die Geschwindigkeit der Zeit.
Während die einen ihr Schneckentempo beklagten, raste sie den anderen in wilder Fahrt davon.
In Wahrheit stimmte das eine und das andere nicht. Wer sollte es besser wissen als die Großmutter des Fräuleins „So-La-La“.


Sie war beinahe so alt wie die Zeit. Weil niemand konnte sich an eine Welt ohne sie erinnern.
Keiner wusste die Zeit besser zu beschreiben als sie.
„Sie ist der dünne Faden, aus dem alle Dinge gestrickt sind.“, sagte sie.
„Es spielt keine Rolle, was etwas ist. Oder was es behauptet zu sein. Am Schluss läuft alles wieder zu dem dünnen Faden auseinander, der es immer gewesen war.“
Die Großmutter redete mit der Gelassenheit eines Menschen, der vieles kommen und ebenso vieles wieder verschwinden gesehen hat.
Für sie war die Zeit in ihrem Kern weder gut noch böse. Denn ihr Appetit machte keine Unterschiede und kannte keine Vorlieben. Sie verschlang die Könige samt ihren Königreichen nicht weniger gern als die armen Schlucker, die nicht mehr besaßen, als sie am Leib trugen.
Die Zeit fraß die Jungen und die Alten. Sie fraß die Reichen und die Armen. Und sie fraß auch die Schönen und die Hässlichen.
Manchmal landeten die Hinterlassenschaften ihrer Mahlzeit in den Vitrinen der Museen. Dort schlichen die Menschen an den alten Knochen und Scherben mit geduckten Köpfen vorbei und erschauderten vor den scharfen Zähnen des Jägers, der auch ihnen im Nacken saß.
„Die Geduld der Zeit ist endlos.“, sagte die Großmutter
„Gegen ihre Macht gibt es keine Mittel.“,
Das Herz des Fräuleins „So-La-La“ schlug laut wie eine Trommel, als sie das hörte.
Es war nicht der unbarmherzige Zahn der Zeit, vor dem ihr graute. Bei einem Mädchen, dessen Alter sich an den Fingern einer Hand abzählen ließ, vermochte er noch nicht viel Unheil anzurichten. Die Vergangenheit war vergangen. Und die Zukunft lag in weiter Ferne.
Die wahre Gefahr lauerte im nächsten Augenblick. Obwohl er nicht länger währte als ein Wimpernschlag, besaß er die Macht, die Welt aus den Fugen zu heben.
Die einzige Schwachstelle war seine Kurzlebigkeit. Ein Grund mehr für das Fräulein „So-La-La“, sich unter dem Küchentisch zu verstecken.


Was ihre Hoffnung nährte, dem nächsten Augenblick zu entgehen, war sein Mangel an Zeit, sie dort aufzuspüren.
Als Beweis führte sie die unzähligen Augenblicke auf, die sie bereits unbeschadet überstanden hatte.
Während sie sich in ihrem Unterschlupf versteckt hielt, waren die Nachrichten voll mit Berichten von seinen Opfern, die nicht das Glück hatten, an einen sicheren Ort zu flüchten.
„Wenn ich dich unter dem Küchentisch finde, wird es auch der Zeit gelingen.“, schmunzelte die Großmutter über das Angebot ihrer Enkelin sich zu ihr in Sicherheit zu bringen.
Das Fräulein „So-La-La“ grunzte verärgert.
Mit ihrer Redseligkeit hatte die Großmutter alles verdorben,
Nun wusste der nächste Augenblick, wo er nach ihr zu suchen hatte.
Oma Rosa war um Schadensbegrenzung bemüht.
Die größte Gefahr bestünde darin, sich unter dem Küchentisch zu Tode zu langweilen, spielte sie ihren Verrat herunter.
Das Fräulein „So-La-La“ glaubte ihr kein Wort.
Wenn die Welt eine andere wurde oder sich das Schicksal eines Menschen entschied, hatte immer ein entscheidender Augenblick die Hand im Spiel.
Oma Rosa blies eine riesige Rauchwolke aus ihrem Mund.
„Die Zeit ist kein Streicheltier. Aber sie ist auch kein Ungeheuer, vor dem man sich unter den Küchentisch flüchten muss.“, sagte sie.
„Die Zeit schafft die Ordnung, in der jeder seinen Platz bekommt, wenn die Reihe an ihm ist. Durch sie kann ihn keiner länger behalten, als es ihm zusteht. In ihrem Wesen gleicht sie dem Wind. Es gefällt nicht allen, was sie bringt. An manchen Tagen bläst sie als rauer Orkan über die Köpfe hinweg. Aber wie der Wind, ist auch die Zeit. Was sie heranweht, weht sie auch wieder fort.


Schreckerstarrt starrte das Fräulein „So-La-La“ die Großmutter an. Geradeso als würde vor ihren Augen die Sonne vom Himmel stürzen.
Das Gesicht von Oma Rosa trug die Spuren eines langen Lebens. Die fahle Haut war von dicken Furchen zerklüftet.
Mit einem Schlag wurde dem Fräulein „So-La-La“ bewusst, auf welche Weise die Menschen aus der Welt verschwanden. Der Zahn der Zeit zermahlte sie langsam bei lebendigem Leib.
Unvermittelt kam dem Fräulein „So-La-La“ der Steinhaufen in den Sinn, der im Garten hinter dem Haus lag.
Die Steine mussten nicht fürchten, aus der Welt zu verschwinden. Für sie spielte es keine Rolle, wie alt sie waren. Ihnen schlug keine Stunde. Ihre Zeit schien endlos zu sein.
Warum lebten die Steine ewig und die Menschen so kurz, wollte es dem Fräulein „So-La-La“ nicht in den Kopf gehen.
Oma Rosa lächelte über diese Frage.
„Die Steine führen ein anderes Leben als wir.“, sagte sie.
„Sie sehen nicht das Licht der Sonne, die über ihnen strahlt. Sie ahnen nichts von der Weite des Horizonts und der Unendlichkeit des Himmels. Sie spüren nicht den Regen, der aus den Wolken auf sie fällt. Sie hören nicht den Wind, der in den Bäumen rauscht. Aber wenn sie von der Schönheit der Welt wüssten, würden sie ihr langes Leben gegen einen einzigen Augenblick von Dir tauschen.“
Das Fräulein „So-La-la“ grübelte lange über die Worte ihrer Großmutter nach.
Die Steine lebten länger als die Menschen. An dieser Tatsache war nicht zu rütteln. Aber ihr Dasein war ohne Freude. Für sie blieb die Welt eine Ewigkeit lang ein dunkler Ort. Sie hatten keine Familie und keine Freunde. Sie feierten keine Geburtstage und keine anderen Feste. Sie kannten kein Lachen und kein Weinen. Sie wussten nicht, wie es sich anfühlte, glücklich oder traurig zu sein. Der Gedanke ließ sie frösteln.
Es dauerte lange, bis es ihr gelang, das Durcheinander in ihrem Kopf in Worte zu fassen.


„Das Lbeen ist schön kruz.“, stolperte es ihr über die Lippen.
Als sie den Gedanken laut aussprach, erschrak sie daran. Sie wusste nicht, ob sie sich freuen oder fürchten sollte.
Zum Glück besaß die Großmutter die Gabe in ihren Gedanken wie in einem Buch zu lesen.
„Es besteht kein Anlass zur Sorge. Die Zeit beißt nur kleine Happen von mir ab.“, grinste sie.
Wie zum Beweis schwang die Großmutter ihre Hüften und trommelte mit den Füßen den Rhythmus eines flotten Tanzes auf den Boden.
„Meine Beine sind flink genug, ihr einen Haken zu schlagen.
Mit Mühe gelang es dem Fräulein „So-La-La“ den nervösen Zeigefinger in Zaum zu halten. Sie hatte gute Lust, ihn auszustrecken und sich damit gegen die Stirn zu tippen.
Die Tage, an den die Großmutter, der Zeit einen Haken geschlagen hatte, waren lange vorbei.
Die Wahrheit sah anders aus.
Die Leidenschaft für Zigarren hatte die Großmutter kurzatmig gemacht. Um die Hüften war sie breit wie eine alte Eiche. Und auf ihren Beinen bildeten dicke Krampfadern den Anblick einer bizarren Flusslandschaft.
„In jungen Jahren war ich beinahe so schnell wie die Maus, die ein Leben lang mit einer Katze um die Wette lief.“, schwelgte die Großmutter in ihren Erinnerungen.
Das Fräulein „So-La-La“ glaubte kein Wort davon.
Mäuse, die sich auf ein solches Wettrennen einließen, wurden nicht alt. Die Katzen waren flink auf den Beinen und ihre Krallen schärfer als ein Rasiermesser. Ein einziger Hieb genügte, um ein übermütiges Mäuseleben zu beenden.
„Diese Maus war anders.“, wischte die Großmutter alle Zweifel beiseite.
„Weit und breit fand sich keine Katze, die mit ihr Schritt halten konnte.“
Natürlich war auch die schnellste Maus nicht davor gefeit, über ein Hindernis zu stolpern und unter einer Katzenpfote ihr Leben zu lassen. Aber ein solches Unglück ereignete sich zum Glück sehr selten.


„Dnan hat die Muas das Rnenen gewnonen?“, ließ sich das Fräulein „So-La-La“ von ihrer Zuversicht anstecken.
Plötzlich verdunkelte sich die Miene der Großmutter, als hätte sich ein Schatten über ihre Erinnerung gelegt.
„Die Geduld der Katzen ist endlos.“, antwortete sie mit einem Blick auf die Küchenuhr.
„Irgendwann kam der Tag, an dem die Maus müde wurde. Sie war ihrem Jäger nie von Angesicht zu Angesicht begegnet. Auch die Katze, die mich verfolgt wird älter und langsamer geworden sein, redete sich die Maus Mut ein. Längst hatte sie die Lust verloren, vor dem Maul einer Katze herum zu tanzen. Die Sehnsucht nach einem sicheren Unterschlupf wuchs mit jedem Tag. Aber nirgendwo fand sich eine Bleibe, die der Maus eine Atempause gönnte. Als ihr Rücken krumm und die Beine lahm wurden, erkannte sie die Aussichtslosigkeit ihrer lebenslangen Flucht.
Eines Tages würde das Unvermeidliche geschehen. Alles was offen blieb, war die Frage, wann und wo die Katze zum entscheidenden Sprung ansetzte.“
Bevor Oma Rosa den letzten Satz beendet hatte, rannen dem Fräulein „So-La-La“ die Tränen über die Wangen.
„Bist du enie sher atle Muas?“, schluchzte sie.
Das Rinnsal in ihren Augen schwoll zu einem gewaltigen Wasserfall an.
„Ich sehe weit und breit keine Katze, die mir gefährlich werden könnte.“, beschwichtigte die Großmutter.
Die tiefen Falten in ihrem Gesicht sagten etwas anderes. Der Schatten des Verfolgers, der ihr im Nacken saß, zeichnete sich in den dunklen Augenringen ab.
„Jemnad msus die Ktaze aufhlaten, bevor sie dcih erwsicht. “, bettelte das Fräulein „So-La-La“ um ein Wunder.
Tief in ihrer Seele ahnte sie, dass es eine Bitte war, die nie in Erfüllung gehen würde.
Mit dem Blick auf die Küchenuhr hatte ihr die Großmutter den wahren Gegner verraten.


Diesen Wettlauf konnte niemand gewinnen.
Ihr Vater lieferte jeden Morgen ein anschauliches Beispiel dafür.
Mit dem Klingeln des Weckers setzte die atemlose Jagd ein. Das unbarmherzige Ticken der Uhr im Ohr sprang der Vater aus dem Bett.
In wilder Panik stürzte er ins Badezimmer, wo er sich die Zähne putzte, den Bart rasierte und die Haare zu einem Scheitel kämmte.
Nie gelang es ihm, die Zeit auf Abstand zu halten.
Hatte er bei der Morgentoilette einen winzigen Vorteil herausgeholt, stellte sich ihm ein blutig rasiertes Kinn in den Weg.
An einem anderen Tag scheiterte er an einem fehlenden Knopf am Hemdsärmel. War auch diese Hürde glücklich gemeistert, verlor er seinen Vorsprung an einem Fettfleck, der die mühsam gebundene Krawatte verunzierte.
Die Reihe seiner Niederlagen schrieb sich endlos fort.
Regelmäßig verbrannte er sich die Lippen mit heißem Kaffee, den er hastig aus einer Tasse schlürfte. Oder er knallte mit dem Kopf gegen eine geschlossene Tür.
Mit angeschwollenen Lippen und einer Beule an der Stirn jagte er verschwundenen Autoschlüsseln, verlegten Mobiltelefonen oder seiner verlorenen Brieftasche hinterher.
Schubladen wurden aufgerissen, Schränke durchwühlt und Taschen durchsucht.
Die Mutter beobachtete den verzweifelten Kampf des Vaters gegen die Zeit aus sicherer Entfernung.
„Er käme schneller aus dem Haus, wenn er sich die Nächte nicht mit endlosen Rechenkolonnen um die Ohren schlagen würde.“, brummte sie mitleidlos ohne am Frühstückstisch von ihrer Zeitungslektüre aufzublicken.
Bisher hatte das Fräulein „So-La-La“ die Hetzjagd, die sich Tag für Tag wiederholte, mit klammheimlicher Genugtuung verfolgt.
Schließlich hatte es sich der Vater selbst zuzuschreiben, dass ihm morgens sein Verfolger dicht an den Fersen war.
Durch die Geschichte von der Maus, die vor der Katze um die Wette lief, schlug ihre Schadenfreude jedoch in pures Entsetzen um.


Plötzlich sah sie das Schicksal der gesamten Welt an einem seidenen Faden hängen.
Nicht auszumalen wagte sie sich, welches Chaos auszubrechen drohte, wenn ihr Vater beim morgendlichen Wettlauf gegen einmal den Kürzeren zog.
Wenn er sich beim Rasieren irrtümlich den Kopf vom Hals schnitt. Wenn er die Treppe hinunter stürzte und sich das Genick brach. Wenn er vom Schwall des heißen Kaffees, den er sich regelmäßig über die Hose schüttete, auf Nimmerwiedersehen mitgerissen wurde. Wenn ihn ein noch schlimmeres Unglück ereilte.
Wer sollte an seine Stelle treten und den Mond in den Himmel heben?
Das Fräulein „So-La-La“ schüttelte den Kopf über den Leichtsinn ihrer Mutter, den Mann mit den wichtigsten Schraubarbeiten der Welt, jeden Morgen einer halsbrecherischen Jagd mit ungewissem Ausgang auszusetzen, ohne einen Finger für ihn zu rühren.
In ihrem Kopf liefen die Zahnräder auf Hochtouren. Schon nach wenigen Umdrehungen hatte sie einen Plan gefasst, wie sie dem Vater einem komfortablen Vorsprung verschaffte. Sie musste nichts weiter tun, als seinen Wecker im Schlafzimmer um eine Stunde vorzustellen. Diese List würde die Zeit auf Distanz halten, bis der Vater aus dem Haus war.
Die praktische Umsetzung scheiterte an einem winzigen Detail.
„Einen Wecker vorzustellen, hält die Zeit nicht auf.“, mischte sich Oma Rosa als Spielverderberin ein.
„Die Uhren funktionieren nicht anders als die Katzen, die den Mäusen hinterher jagen. Wenn eine ausfällt, tritt eine andere ihre Stelle.“
Die Lippen des Fräuleins „So-La-La“ türmten sich zu einem steilen Hügel auf. Ihr schöner Plan zerplatzte mit einem lauten Knall wie ein Luftballon an einer spitzen Nadel.
Vielleicht war es besser, den Vater an einen sicheren Ort zu entführen, wo ihm die Zeit nichts anhaben konnte.
Als erstes Reiseziel fasste das Fräulein „So-La-La“ den Nordpol ins Auge. Im ewigen Eis froren alle Uhr ein.
Schnell meldeten sich erste Zweifel, ob es klug war, den Vater zusammen mit Fischstäbchen und Eispackungen und tiefzukühlen.


Sicherlich bot Afrika die besseren Bedingungen? In den Nachrichten hatte sie von Ureinwohnern gehört, die in den dichten Dschungelwäldern von der Zeit vergessen worden waren. Einzig die Sorge, er könnte zu einer leichten Beute wilder Tiere werden, ersparte dem Vater die dauerhafte Unterbringung im Urwald.
Nach langem Hin und Her fiel die Wahl auf eine Wüste im fernen Orient. Dort gab es den Sand, der durch die Uhren rann, in Hülle und Fülle. Dank dieses unerschöpflichen Vorrates würde ihrem Vater nie wieder die Zeit knapp werden.
Als sie der Großmutter von ihren Reiseplänen erzählte, erfuhr sie von zahllosen Knochenresten, die in den Sanddünen begraben lagen. Kleinlaut strich das Fräulein „So-La-La“ auch die Wüste von der Liste.
Einmal mehr hatte die Zeit ihre Überlegenheit unter Beweis gestellt. Sie ließ sich auch mit Fernreisen nicht abschütteln.
Die Willkür, mit der die Zeit die Welt beherrschte, verfolgte das Fräulein „So-La-La“ bis in den Schlaf. In ihren Träumen verdunkelte sie in der Gestalt eines tausendköpfigen Ungeheuers die Welt.
Unablässig mahlten die Kiefer seiner riesigen Mäuler. Was ihnen in den Rachen fiel, zerrieb langsam zu Staub. Niemals schlief der Drache. Nie wurde er satt. Und nie wurde sein Bauch voll.
Tagsüber übertönte der Lärm der Welt seinen Herzschlag. Aber nachts war seine Melodie deutlich zu hören. Tick-Tack, Tick-Tack summte es wie das Uhrwerk eines Weckers.
Schweißüberströmt schreckte das Fräulein „ „So-La-La“ aus dem Schlaf hoch. Ihre Augen starrten in eine pechschwarze Nacht. Der tausendköpfige Drache war aus ihrem Kopf verschwunden. Aber sein Herzschlag klang deutlich in ihren Ohren. Tick-Tack, Tick-Tack.
Ein Schaudern erfasste sie. Das gefräßigste Ungeheuer zwischen Himmel und Erde bewegte sich im Takt eines harmlosen Uhrwerks.


In der Wohnung der Großmutter hörte sie es wieder schlagen.
Tick-Tack. Tick-Tack.
Dieses Mal war es kein Traum. Es war mitten am Tag. Ängstlich wanderte ihr Blick die Wand hoch, an der die Küchenuhr hing.
Tick-tack, Tick-tack, bewegten sich die Zeiger auf dem runden Ziffernblatt vorwärts.
Ein eisiger Hauch schlug dem Fräulein „So-La-La“ ins Gesicht. Für einen kurzen Moment öffnete das Getriebe der Welt seine dunkle Pforte. Was dahinter zum Vorschein kam, war kein tausendköpfiges Monster.
Das Fräulein „So-La-La“ starrte in das Antlitz eines jämmerlichen Zwerges, der in einer kleinen Küchenuhr hauste.
Sein Gesicht war rund wie ein Ziffernblatt. Anstelle von zwei Augen besaß er zwölf. In seiner Brust schlug kein Herz, sondern eine kalte Mechanik. Ein Bein an ihm war kurz und das andere lang gewachsen. Durch eine Laune der Natur zum Krüppel gemacht, bewegte er sich kaum von der Stelle.
Tick-Tack, Tick-Tack, schleppte er sich in winzig kleinen Schritten vorwärts.
Hasserfüllt starrte das Fräulein „So-La-La“ auf die Uhr. Der Anblick des Zwerges, der ihre Großmutter bei lebendigem Leib langsam zermahlte, entfachte eine zerstörerische Wut in ihr.
Kalten Herzens malte sie sich aus, wie sie den Fleischhammer heimlich aus der Küchenschublade stahl. Wie sie einen Stuhl an die Tür heranrückte und sich darauf hochschwang. Wie sie mit wuchtigen Hammerschlägen auf die Uhr einhieb. Wie das Tick-tack, Tick-tack des Zwerges verstummte und sich die Welt in ein Paradies verwandelte, in dem alles blieb wie es schon immer gewesen war.
Niemand musste mehr um seine Jugend und Schönheit fürchten. Niemand wurde alt und gebrechlich. Niemand verlor seinen Platz auf der Welt.
Es war die Stimme der Großmutter, die sie zur Vernunft rief.
„Ohne die Zeit wäre nichts so geworden, wie es ist.“,warnte sie.
„Deiser hsäsliche Zerwg ist zu nchits gut. Er lsäst die Dnige verschiwnden.“, bellte das Fräulein „So-La-La“ zurück.


Wie verrückt war die Welt, in die man sie hineingeboren hatte? Die Menschen beherrschten die Erde, die Luft und die Ozeane. Es war ihnen sogar gelungen, mit einer Rakete auf dem Mond zu landen.
Aber wie vor tausenden von Jahren lagen sie vor einem hinkenden Zwerg auf den Knien, der ihrem Sturmlauf nichts entgegenzusetzen hatte als ein kleines Uhrwerk und ein kreisrundes Ziffernblatt von der Größe einer Handfläche.
Tick-Tack, Tick-Tack hallten seine Schritte durch den Raum und lenkten die Aufmerksamkeit des Fräuleins „So-La-La“ auf die Küchenuhr zurück.
Die Zeiger hatten sich kaum von der Stelle gerührt. Der kürzere von beiden hatte Mühe mit seinem längeren Begleiter Schritt zu halten. Die gemeinsamen Begegnungen beschränkten sich auf wenige Augenblicke. Mit der gleichen Anstrengung, mit der sie sich aufeinander zu bewegten, strebten sie wieder voneinander fort.
Weit ausholend eilte der große Zeiger voran. In bedächtigen Schritten folgte der kleinere hinterher. Auf halber Strecke der Uhr, kehrte sich das Bild um. Der große Zeiger rückte im Windschatten des kleinen Zeigers wieder unaufhaltsam näher. Bis sie einander auf gleicher Höhe begegneten und das seltsame Schauspiel von vorne begann.
Ohne es in Worte fassen zu können, begriff das Fräulein „So-La-La“, welches Geheimnis sich hinter der Macht des Zwerges verbarg.
Seine Gefährlichkeit ruhte nicht in der Geschwindigkeit, mit der er seine Runden zog. Auf seinen verschieden langen Beinen war es ihm unmöglich, ein Wettrennen gegen die schnellste Maus der Welt zu gewinnen.
Er versuchte erst gar nicht, sie einzuholen. Es war die endlose Geduld, die ihn unbesiegbar machte. Nie lief er schneller. Nie zog er seine Runden langsamer. Niemals stand er still.
Wer gegen ihn antrat, war von Anfang an verloren.
Tick-Tack, Tick-Tack humpelte er unaufhaltsam heran.
Tick-Tack, Tick-Tack rückte er auf gleiche Höhe.
Tick-Tack, Tick-Tack eilte er allen davon.
Dem Fräulein „So-La-La“ wurde schwarz vor Augen. Ein dunkler Abgrund nahm sie auf. Aus der Tiefe hörte sie den Zwerg ihren Namen rufen.


Tick-Tack, Tick-Tack hallte sein höhnisches Gelächter in ihren Ohren.
Die Welt war keine Kugel mehr. Sie hatte sich in das Ziffernblatt einer riesigen Uhr verwandelt.
An ihrem äußeren Rand trieb eine Katze, der ein Bein kurz und das andere lang gewachsen war, die Großmutter vor sich her. Die ungleiche Jagd ging ihrem Ende entgegen. Als die Katze zum Sprung ansetzte, warf sich das Fräulein „So-La-La“ mutig dazwischen.
„Tick-Tack, Tick-Tack, nichts bleibt so, wie es ist.“, lachte die Katze und schwang sich in weitem Bogen über das Fräulein „So-La-La“ hinweg in den Nacken der Großmutter.
„Nein.“, schrie das Fräulein „So-La-La“ entsetzt auf.
Sie zog den Fleischhammer unter ihrem Pullover hervor und schlug auf die Katze ein. Ihre Hiebe gingen ins Leere.
Tick-tack, Tick-tack, schnurrte die Katze.
Ein heftiges Zwicken an der Wange setzte dem grausigen Spuk ein Ende.
„Aua.“, schrie das Fräulein „So-La-La“ und schlug die Augen auf.
Oma Rosa saß ihr quicklebendig gegenüber. Die Katze war leer ausgegangen.
Glückstrahlend fiel das Fräulein „So-La-La“ der Großmutter in die Arme.
Das Tick-Tack, Tick-tack in ihren Ohren war verstummt. An seiner Stelle hörte sie ein Herz schlagen.
Das Fräulein „So-La-La“ drückte ihren Kopf fest an die Brust ihrer Großmutter. Nie zuvor hatte sie eine schönere Melodie vernommen als in diesem Augenblick.
Die Großmutter nahm ihre Hand und öffnete mit sanftem Druck die Faust.
„Der Zwerg tut nur, was getan werden muss.“, nahm ihr Oma Rosa das Gewicht des Hammers, mit dem sie vergeblich auf die Katze eingeschlagen hatte, aus der Hand.
„Keineswegs verdient er es, in Stücke gehauen zu werden. Ohne seine Arbeit würde die Welt aus allen Nähten platzen. Die Alten könnten keine Ruhe finden. Und die Jungen bekämen keine Gelegenheit ihnen nachzufolgen.“, sagte sie.


Das Fräulein „So-La-La“ hob den Kopf und blickte der Großmutter ins Gesicht. An ihren Falten war deutlich abzulesen wie nahe der hinkende Zwerg bereits an sie herangerückt war.
„Wie veil Patlz barucht ein Mnesch auf der Wlet?“, fragte sie ängstlich.
Oma Rosa zuckte mit den Schultern.
„Manche finden mit einem Königreich nicht das Auslangen. Andere geben sich mit einem Bett zum Schlafen zufrieden.“, antwortete sie.
„Msust Du Dienen Patlz blad ruämen?“, bohrte das Fräulein „So-La-La“ nach.
Die Großmutter konterte mit einem Scherz.
„Solange ich meine Miete pünktlich zahle, sehe ich keinen Grund, dass man mir die Wohnung kündigt.“
Der Mund des Fräuleins „So-La-La“ türmte sich zu einem riesigen Hügel auf. Sie schenkte den Worten der Großmutter keinen Glauben.
Tick-Tack, Tick-Tack, rief sich der hinkende Zwerg in der Küchenuhr wieder in Erinnerung.
Solange sich eine freie Lücke auf der Welt fand, konnte die Großmutter ihren Verfolger noch entwischen, hoffte das Fräulein „So-La-La“.
Tagsüber würde es ausreichen, sich unter dem Küchentisch zu verstecken, wenn ihr Zwerg zu nahe rückte. Aber wie sollte sie die Nächte unbeschadet überstehen? Plötzlich kam ihr der Vorschlag des Vaters in Sinn. Er hatte mehrfach angekündigt, die Großmutter auf den Mond schießen zu wollen. Vielleicht war es die beste Möglichkeit, sie in Sicherheit zu bringen. Auf dem Mond musste niemand das Tick-tack, Tick-tack des Zwerges fürchten. Dort gab es Platz genug.
„Die Väter schießen ihre Schwiegermütter nicht auf den Mond, um sie vor der Zeit zu retten. Sie tun es aus anderen Gründen.“, lachte die Großmutter, als sie von dem Plan erfuhr.
Sie hielt es an der Zeit, dem Zwerg in der Küchenuhr seinen Schrecken zu nehmen.
„Manchmal erscheint die Zeit eine Plage, weil sie Jugend und Schönheit raubt.“, leitete ihre Fürsprache für ihn ein.


Das Gesicht der Großmutter hing in einer dicken Rauchwolke. Die Zigarre zwischen ihren Lippen glühte dunkelrot.
„Aber viel schlimmer wäre ein Dasein ohne sie. Niemand weiß es besser als jene Menschen, die dieses Unglück ertragen mussten.“
Nach einem langen Zug an ihrer Zigarre berichtete die Großmutter von einem Vorfall, der sich vor langer Zeit zugetragen hatte.
Auf der Suche nach Gold und anderen Schätzen hatten die Menschen das Uhrwerk der Zeit tief im Inneren einer Höhle entdeckt.
Die Nachricht verbreitete sich wie ein Lauffeuer. Es dauerte nicht lange, bis die Menschen begannen, die riesigen Zahnräder der Zeit mit großen Baumstämmen zu verkeilen. Ein ohrenbetäubendes Donnern, Krachen und Rumoren erfüllte die Welt. Als der Lärm verebbte, war die Zeit stehen geblieben.
Die Menschen jubelten und fielen sich in die Arme. Nun konnte alles bleiben, wie es immer schon gewesen war.
Die Alten starben nicht mehr. Die Jungen wurden nicht mehr alt.
Wer gesund war, blieb es für alle Tage. Wer krank im Bett lag, spürte seine Kräfte nicht weiter schwinden.
Es herrschte eine Fröhlichkeit in der Welt, wie es sie nie zuvor gegeben hatte. Die Menschen lebten unbekümmert in den Tag. Jugend und Schönheit welkten nicht mehr mit den Jahren dahin.
Aber anstelle der Zeit trat ein neuer Schrecken die Herrschaft über die Welt an. Es war der Stillstand, der die Seelen allmählich verfinsterte.
Alles blieb, wie es war. Nichts wurde schlechter. Aber nichts geriet mehr zum Besseren. Die Menschen begannen zu verzweifeln.
Die Schwangeren konnten ihre Babys nicht mehr gebären. Die Kinder wurden nicht erwachsen. Die Mädchen blieben zu jung, um sich zu verlieben. Die Söhne warteten vergebens auf den Tag, an dem sie ihren Vätern nachfolgten. Die Alten schleppten sich durch ein mühsam gewordenes Dasein.
In der Welt, in der alles blieb, wie es schon immer gewesen war, fingen die Menschen an, von der Zeit zu träumen. Sie errichteten prächtige Altäre zu ihrem Gedenken und stimmten feierliche Gesänge an. Inbrünstig beteten sie für ihr Wiedererwachen.


Erst als die Zeit stillstand, erkannten sie im Kreislauf von Werden und Vergehen das verlorene Paradies. Mit der Rückkehr der Zeit verbanden sie die Hoffnung, dass der Fluss des Lebens neu zu fließen begann.
Lange warteten die Menschen vergebens, bis eines Tages das Wunder geschah.
Die Baumstämme, die sie im Uhrwerk der Zeit verkeilt hatten, hielten dem Druck der Zahnräder nicht länger stand. Abermals wurde die Welt von einem Donnern, Krachen und Rumoren erschüttert, als sich die schweren Räder, von denen das kleinste so groß wie ein Wolkenkratzer war, langsam in Bewegung setzten.
Im tosenden Lärm der zersplitternden Stämme kehrte die Zeit in die Welt zurück.
Im ganzen Land läuteten die Glocken. Überall fielen sich die Menschen in die Arme und weinten vor Freude.
Die Gebärenden lagen glücklich den Wehen. Die Kinder wuchsen wieder aus ihren Schuhen. Die Mädchen wurden alt genug, um sich zu verlieben. Die Söhne stiegen in die Fußstapfen ihrer Väter.
Die Menschen nahmen das Wunder dankbar an. Sie sprengten den Zugang zu der Höhle, in der sich das Uhrwerk der Zeit befand und strichen den Standort aus allen Karten. Nie wieder sollte die Zeit stillstehen und sie in Not bringen.
Die Geschichte stach tief ins Herz des Fräuleins „So-La-La“. Nun sah sie die Zeit wie sie wirklich war. Sie brachte das Gute und das Schlechte. Aber was mit ihr kam, verschwand auch wieder mit ihr.
Dem hinkenden Zwerg, der in der Küchenuhr hauste, war es ohnehin einerlei, ob er geliebt oder gehasst wurde.
Er zog rastlos seine runde Bahn. Schon lange hatte er das Interesse verloren an denen, die auftauchten und wieder verschwanden. Es war ihm Plage genug, mit den verkrüppelten Beinen seine Runden auf dem Ziffernblatt zu ziehen.
In seiner Brust schlug kein mitleidiges Herz. Wenn er den Mund öffnete, war nur das leise Tick-Tack, Tick-Tack einer kalten Mechanik zu hören, mit dem die Zeit verging.


Durch das offene Fenster in der Küche strömte die Abendluft herein. Die Zauberfee hatte weit hinter der Stadt begonnen, die Sonne hinter den Horizont zu ziehen. Schon bald würden ihre schwarzen Tücher die Welt verdunkeln.
Im Licht der Straßenlaterne würde der Vater bei Einbruch der Dunkelheit auf das Dach steigen und den Mond in den Himmel schrauben.
An diesem Tag hielt es das Fräulein „So-La-La“ kaum aus, bis die Glocke an der Tür anschlug.
Beinahe hätte sie dem hinkenden Zwerg in der Küchenuhr flinkere Beine gegönnt. Aber dann wäre es der Großmutter schwerer gefallen, ihm mit ihren müden Beinen einen Haken zu schlagen. Und dieses Risiko wollte das Fräulein „So-La-La“ auf keinen Fall eingehen.
Auf dem Heimweg jubelte sie über jede freie Parklücke, die sie zwischen den Häusern und Autos vollgestopften Straßen entdeckte.
Überschwänglich bejubelte sie die kleinen Parks und Vorgärten, an denen sie Hand in Hand mit ihrer Mutter vorbei schlenderte.
Jede menschenleere Fläche, auf die sie stieß, befeuerte ihre Zuversicht. Solange es in der Welt genügend freie Lücken gab, bestand für Oma Rosa kein Grund zu fürchten, dass der Jäger in ihrem Rücken zum entscheidenden Sprung ansetzte.
Wie lächerlich gering wog dagegen das Geschimpfe der Mutter über den Unsinn, den eine zigarrenqualmende Hexe einem kleinen Mädchen ins Ohr setzte.
Das mütterliche Donnerwetter kam nicht von ungefähr. Beharrlich weigerte sich das Fräulein „So-La-La“ an diesem Tag, das Abendessen anzurühren.
Alle Drohungen und Verwünschungen der Mutter halfen nicht. Wie herrlich es auch aus den Pfannen und Töpfen duftete. Das Fräulein „So-La-La“ aß keinen Bissen vom Teller. Am Abend schlüpfte sie mit knurrendem Magen ins Bett.
Bevor ihr die Augen zufielen, schwor sie vor ihrer Lieblingspuppe jeder Schokolade, Eisbechern und allen sonstigen Süßigkeiten für immer ab.
Für nichts in der Welt wollte sie ein Gramm Fett zu viel auf den Hüften haben, das ihrer Großmutter den Platz in der Welt streitig machte.