
13.) Buch
DIE GESCHICHTE…
wie das Fräulein „So-La-La“ erfährt, dass der Zufall die Welt beherrscht und man trotzdem keine Angst haben muss

Das Fräulein „So-La-La“ hatte es schon lange geahnt. Als sie dem verstaubten Globus in der Dachkammer des Vaters einen leichten Stoß versetzte, sah sie ihren Verdacht auf schreckliche Weise bestätigt.
Die Welt drehte sich im Kreis, ohne von der Stelle zu kommen.
Es war wie eine Fahrt mit dem Karussell. Alles wiederholte sich nach einem genauen Plan. Die Jahreszeiten, die Geburtstage und Weihnachten.
Mit einer einzigen Ausnahme.
Der Zufall fuhr nicht Karussell. Er passierte als einziges aus heiterem Himmel. Weil morgens die Sonne aufging. Weil es nachts dunkel wurde. Weil das Wetter schön war. Oder weil am Himmel Wolken zogen.
Manches ereignete sich, weil es im Kalender stand. Weil es eine Zeitung druckte. Weil es der Programmzettel vorschrieb. Oder weil es einfach an der Zeit war.
Das Allermeiste jedoch geschah, weil es der Zufall so wollte. Er war der wahre König der Welt. Seine Herrschaft kannte keinen Beginn und kein Ende.
Er war auf kein Wohlgefallen angewiesen und auf keine Wiederwahl. Der Zufall war immer im Recht. Er musste niemanden überzeugen und für nichts Rechenschaft ablegen.
Kein Gesetz und keine Behörde konnten ihm etwas anhaben. Die Staatsanwälte und Richter mühten sich vergeblich mit ihm ab.
Mit dem bisschen Absicht, das zwischen Himmel und Erde existierte, suchte er keinen Streit. Der größte Anteil daran war ohnedies von ihm gefälscht. Und der Rest lohnte den Aufwand nicht. Sein Terminkalender war zu voll dafür.
Er kümmerte sich um Lottogewinne genauso, wie um Autos, die aus der Kurve schleuderten. Er trug die Verantwortung für Flugzeuge, die plötzlich vom Himmel stürzten oder Schiffbrüchige, die im letzten Augenblick gerettet wurden.
Sein Einsatz blieb stets vorbildlich. Mit dem gleichen Fleiß, mit dem er ein Leben rettete, verschwendete er ein anderes.
Der Zufall hatte immer zu tun. Sein Arbeitstag dauerte vierundzwanzig Stunden. Er nahm sich kein Wochenende frei und fuhr niemals in den Urlaub.
Daher war es allzu verständlich, dass ihm einmal ein Irrtum unterlief, dachte sich das Fräulein „So-La-La“.
Ihrem Leben haftete nämlich gar nichts Unvorhersehbares an. Der Zufall hatte schlichtweg auf sie vergessen.


Was ihr widerfuhr, geschah nicht zufällig, sondern zu ihrem Besten. In ihrem Tagesablauf gab es für alles eine Regel und einen Plan.
Mit dem Zufall wäre kein Spaß zu treiben, nahm sich die Mutter kein Blatt vor dem Mund, um das Fräulein „So-La-La“ von ihm fernzuhalten.
Mit flammender Stimme brandmarkte sie seinen launenhaften Charakter, der die Sorglosigkeit der Opfer zum eigenen Vergnügen auskostete.
Der Zufall würde nicht zwischen Gut und Böse unterscheiden. Die einzige Vorliebe, die er bei seiner Beute erkennen ließe, wäre der Leichtsinn.
Jedes aufgeschlagene Knie, jede blutende Lippe und jede Beule am Kopf rechnete sie seinem schlechten Einfluss an.
„Die Geschenke, die er verteilt, sind teuer verzinst.“, warnte sie unermüdlich vor den Gefahren seiner Verlockungen.
Überall sah sie Gefahren, die der Zufall zu seinem Vorteil ausnutzte.
Die Schaukel auf dem Spielplatz war kein harmloser Freizeitspaß, sondern ein Apparat, die leichtsinnigen Mädchen das Genick brach. In jedem Planschbecken lauerte ein qualvoller Ertrinkungstod auf sein zufälliges Opfer. Und wagte es das Fräulein „So-La-La“ einen Fuß in eine Sandkiste zu setzen, landete sie zur Beseitigung der lebensgefährlichen Keime Minuten später in der Badewanne. Mit gleichem Argwohn begegnete die Mutter Regenpfützen, Springschnüren und Tretrollern.
Was in den Verdacht geriet, dem Zufall in die Hände zu spielen, durfte auf keinen Pardon hoffen.
Die Bäume hinter dem Haus fielen auf ihre Anweisung der Motorsäge zum Opfer, ehe das Fräulein „So-La-La“ Gelegenheit fand, sich an einem der Äste hoch zu schwingen.
Als sie einen Stuhl zum Fenster rückte, um den Sonnenuntergang zu beobachten, verbarrikadierte die Mutter die Aussicht noch am gleichen Tag durch ein Eisengitter.


„Es geschieht alles zu deinem Besten.“, begründete sie ihre
übertriebene Fürsorge.
Der Zufall beobachtete das seltsame Geschehen aus sicherem Abstand, ohne sich an den Feindseligkeiten, die ihm die Mutter entgegen brachte, zu kränken. Er wusste um seinen langen Atem.
Die Welt rollte auf einer schiefen Bahn. Und sie rollte ihm entgegen.
Je weiter der Bogen wurde, den die Mutter um ihn schlug, desto enger zog der Zufall die Schlinge. Es war bloß eine Frage der Zeit, bis er zu seinem Recht gelangte.
Mahnungen gab es zuhauf.
„Man müsste nur die Zeitungen aufschlagen, um seine Macht zu erfahren.“, schulmeisterten die hochgezogenen Augenbrauen.
„Die besten Absichten enden zumeist mit den schlimmsten Zufällen.“, prophezeiten die gestreckten Zeigefinger.
„Niemand würde die Friedhöfe und Kinderwägen erfolgreicher bestücken als er.“, meldeten sich die mitleidigen Stimmen zu Wort.
Die Mutter stellte sich mit breiter Brust dagegen.
„Nie und nimmer würde der Zufall einen Fuß über die Schwelle ihres Hauses setzen.“ knurrte sie kampfeslustig.
Ihre großspurige Ankündigung sorgte für heiteres Getuschel.
„Für einen solchen Kampf täte ihr mehr Fleisch auf den Rippen gut.“, höhnten die hochgezogenen Augenbrauen.
„So dick könnte sie gar nicht werden, um dem Zufall den Weg zu versperren.“, lachten die gestreckten Zeigefinger.
„Einen fetten Wurm fräße ein Vogel noch lieber als einen mageren.“, lästerten die mitleidigen Stimmen.
Während sich die Welt das Maul zerriss, zweifelte das Fräulein „So-La-La“ nicht im Geringsten am Vorhaben ihrer Mutter.
Wer jeden Morgen mit purer Muskelkraft die Sonne über dem Horizont am Himmel hochzog, würde auch dem Zufall die Stirn bieten.
Die Mutter ging unverzüglich daran, das Bollwerk gegen den Angriff des Zufalls zu errichten. Ihre Zuversicht brauchte kein Wunder.


An dem Verbündeten, der ihr zur Seite stand, würden alle Sturmläufe des Zufalls wirkungslos abprallen.
Voller Stolz präsentierte sie dem Fräulein „So-La-La“ ihre Neuanschaffung. Es war ein Terminkalender.
Seiner Macht hatte der Zufall nichts entgegen zu setzen, zeigte sich die Mutter siegessicher.
Die ersten Tage verliefen wie sie es vorhergesagt hatte. Zu welcher Tages- und Nachtzeit der Zufall versuchte, ihm Haus Fuß zu fassen. Stets schnappte ihm ein Termin die bereits sicher geglaubte Beute vor der Nase weg. Nach mehreren Niederlagen räumte er kleinlaut das Feld.
Der Terminkalender hatte seine Feuerprobe mit Bravour bestanden. Fortan bestimmte er jede Minute im Tagesablauf des Fräuleins „So-La-La“. Unter seiner Herrschaft war ihr Dasein nicht länger ein unbekümmertes Durcheinander. Es vollzog sich im Takt eines unbarmherzigen Trommelschlages.
Die Mutter betrieb ihre Planungen mit der Präzision einer Schweizer Uhr. Jede Minute war Maßarbeit.
Für das Fräulein „So-La-La“ begann ein Leben ohne Pausen. Von früh bis spät reihte sich Termin an Termin.
Die spärlichen Lücken zwischen Ballettstunden und Klavierunterricht füllten sich mit Mal- und Sportkursen.
Der Anfang übertraf alle Erwartungen. Die Anstrengungen der Mutter machten sich rasch bezahlt. Bereits nach wenigen Monaten hingen die Wände im Haus voll mit Diplomen und Urkunden.
Die Ballettschule feierte das Fräulein „So-La-La“ als aufstrebende Ballerina. In Musikerkreisen wurde ein angehendes Klaviergenie beklatscht. Riesige Blechplakate in gläsernen Vitrinen bezeugten ihre sportlichen Höchstleistungen.
Die Triumphe stachelte den Ehrgeiz der Mutter weiter an. Als sie den Unterricht bis tief in die Abendstunden ausdehnte, platzte dem Vater der Kragen.
Ihr übertriebener Kampf gegen den Zufall, würde sie dem Gespött der gesamten Nachbarschaft ausliefern, stellte er die Mutter zur Rede.
Das Mitleid mit seiner von Terminen gequälten Tochter ließ ihn jede Vorsicht vergessen. In Todesverachtung wählte er das schärfste Mittel des Protests.


Er streckte seinen rechten Zeigefinger aus und tippte ihn heftig gegen die Stirn.
Im selben Augenblick fand er sich im Auge eines wütenden Orkans wieder. Die Sturmfront, die sich über seinem Kopf entlud, war kein übliches Donnergrollen. Eine nie dagewesene Sintflut spülte ihn aus der Küche.
In seinem Kopf ertönten die Posaunen des Weltunterganges. Mit überschlagender Stimme schrie sich die Mutter das Entsetzen über seine Verantwortungslosigkeit von der Seele.
Ein Schuft wäre er, der seine Tochter der Launenhaftigkeit des Zufalls aussetzte. Ebenso könnte er sie ohne Wasser in der Wüste ihrem Schicksal überlassen.
Die Posaunen des Weltunterganges bliesen mit einer Heftigkeit, dass der Boden bebte und das Geschirr in den Regalen schepperte.
Reumütig gelobte der Vater Besserung. Zur Wiedergutmachung flüchtete er sich in ein wochenlanges Schweigegelübde.
Andere hatten weniger Glück. Sie wurden von der mütterlichen Sturmflut auf Nimmerwiedersehen fortgerissen.
Auf die Posaunen des Weltunterganges kam in diesen Tagen viel Arbeit zu, bis alle Stimmen der Vernunft verstummt waren.
Das Fräulein „So-La-La“ tanzte und flötete. Sie turnte und malte. Ihre Termine zogen sich von morgens bis abends über sieben Tage die Woche. Der Kalender der Mutter kannte keine Feiertage und kein Mitleid.
Wochenlang herrschte gespannte Ruhe. Der Zufall stand auf verlorenem Posten. Mit leichter Hand eilte die Mutter von Erfolg zu Erfolg. Im Siegesrausch überfiel sie der Übermut.
„Die Macht des Zufalls wird überschätzt.“, prahlte sie mit Blick auf den minutiös geplanten Tagesablauf des Fräuleins „So-La-La“.
Und weil alle warnenden Stimmen verstummt waren, fand sich niemand, der ihr ins Wort fiel, als sie lautstark ihren Sieg über den Zufall verkündete.
„Meine Tochter hat keinen Termin für ihn frei.“, höhnte sie.
Der Zufall mochte blind sein. Aber er besaß feine Ohren, mit denen er den Flügelschlag eines Schmetterlings kilometerweit hörte. In der Lautstärke eines aufheulenden Flugzeugmotors über ihn zu lästern, erwies sich als keine gute Idee, wie sich bald herausstellen sollte.


Die Mutter ahnte nichts von der Katastrophe, die sich hinter ihrem Rücken anbahnte. Mit nachlassender Wachsamkeit feierte sie ihre Siege, die keine waren.
Wann immer sie einen Blick in den randvoll gefüllten Terminkalender warf, erfasste sie tiefe Genugtuung. Ihr Bollwerk schien uneinnehmbar. Nirgendwo klaffte eine freie Minute, in die der Zufall einfallen konnte.
Als ihre mühsam errichtete Festung in sich zusammenbrach, brauchte es keine Sturmleitern. Der Zufall stolzierte ohne die geringste Anstrengung an der Mutter vorbei durch die offene Tür ins Haus. Ein winzige Briefmarke hatte sie ihm geöffnet.
Die Post vereinbarte keine Termine. Sie stellte alle Pakete zu, die ausreichend frankiert und richtig adressiert waren.
Eine Leichtsinnigkeit leitete die Niederlage der Mutter ein. Bei einem gemeinsamen Stadtbummel erlag der Vater der Versuchung, seine Tochter für ein Gewinnspiel anzumelden.
Es war nicht geplant, dass ihr der Hauptpreis zugelost wurde. Niemand hatte es beabsichtigt. Der Zufall machte sie zur stolzen Besitzerin eines nagelneuen Fahrrades.
Die Mutter traf beinahe der Schlag, als der Paketzusteller an der Tür läutete und den Preis an das Fräulein „So-La-La“ übergab.
All die Reden und Predigten, in denen sie vor der Bösartigkeit des Zufalls gewarnt hatte, waren mit einem Schlag widerlegt.
Als Lügnerin entlarvt, knallte sie dem Postboten grußlos die Tür vor der Nase zu.
Der Gewitterdonner, der sich in ihrem Gesicht zusammenbraute, entlud sich Minuten später hinter der geschlossenen Tür des Schlafzimmers. Wie mächtige Blitze bohrten sich ihre Blicke in das Haupt des Vaters, der sich um Gnade winselnd vor ihre Füße warf und schwor, jedwede Preisausschreiben und Glücksspiele für alle Zukunft zu meiden.
Seine Reue kam zu spät.
Der Zufall hatte eine breite Bresche in das mütterliche Bollwerk geschlagen. Seine Saat keimte unheilvoll im Herzen des Fräuleins „So-La-La“.
Warum sollte jemand, der einem kleinen Mädchen zur glücklichen Gewinnerin eines Fahrrades machte, die Absicht haben, die Welt ins Unglück stürzen?
Das Preisausschreiben wendete das Blatt zugunsten des Zufalls. Einmal im Haus begann er sich gemütlich in seiner neuen Bleibe einzurichten.
Stück für Stück eroberte er das verlorene Terrain, das ihm die Mutter mühsam abgerungen hatte, zurück.


Eine Woche nach der ersten Begegnung mit dem Zufall stolperte das Fräulein „So-La-La“ am Straßenrand über eine dicke Brieftasche. Der rechtmäßige Eigentümer stellte sich zum Schrecken Mutter als Besitzer eines Eissalons vor.
Neben einem fetten Finderlohn spendierte er dem Fräulein „So-La-La“ einen Sommer lang jeden Tag einen Eisbecher nach freier Wahl.
Wenig später erfasste eine Grippewelle die Bewohner des Hauses. Wie durch ein Wunder blieb das Fräulein „So-La-La“ als einzige verschont.
Der Zufall wollte es so.
Mit solchen und anderen kleinen Gesten legte er den Grundstein für den Beginn einer großen Freundschaft.
Der neue Hausgast stieß beim Vater auf anfängliches Wohlwollen. Half er doch nach Kräften mit, den aus allen Nähten platzenden Terminkalender des Fräuleins „So-La-La“ zu entrümpeln.
Als erstes widerfuhr ihrer Musikkarriere mit seiner Hilfe eine jähe Unterbrechung.
Ein Glas Himbeersirup, dessen klebriger Inhalt sich zufällig über die Klaviertasten ergoss, sorgte für die erste Lücke in ihrem Kalender.
Die Reparatur des empfindlichen Musikinstrumentes verschlang eine Riesensumme. Als der Schaden behoben war, wiederholte sich der Vorfall mit einem Schokoladenpudding. Worauf der Musiklehrer zur Erleichterung des Vaters die Fortsetzung des Unterrichts verweigerte.
Für die Mutter hatte die Niederlage ein kostspieliges Nachspiel. Sie nahm aus Kummer über die erlittene Schmach zehn Kilo an Lebendgewicht ab und musste ihre gesamte Garderobe tauschen.
Die verlorene Musikkarriere bildete erst den Anfang einer unglückseligen Serie.
Ein unrühmliches Ende nahm auch die Ballettlaufbahn des Fräuleins „So-La-La“.
Aus purem Zufall zertrümmerte sich ihre Ballettlehrerin, beim Versuch eine Pirouette vorzutanzen, den Knöchel.
Der Vorwurf, das Fräulein „So-La-La“ hätte ihr absichtlich ein Bein gestellt, ließ sich zum Glück nicht zu erhärten. Trotzdem kam der Vater nicht umhin, der mit einem Gipsbein verunstalteten Ballerina einen namhaften Betrag für ihr Schweigen auszuzahlen.


Dazu addierten sich die Ausgaben für die neuerliche Einkleidung der nunmehr spindeldürren Mutter.
Durch solche und ähnliche Vorfälle leerte sich der Terminkalender des Fräuleins „So-La-La“ in atemberaubender Geschwindigkeit. Bald füllten die weißen Lücken ganze Kalenderseiten.
„Ich will doch nur ihr Bestes.“, jammerte die bis auf die Knochen abgemagerte Mutter nachts die Schlafzimmerdecke an.
Ihre Klagen blieben ungehört. Die Liste der Katastrophen wurde mit jedem Tag länger. Der Kampf gegen den Zufall ging an allen Fronten verloren.
Der Turnunterricht musste abgebrochen werden, da der Trainer über die zufällig zusammengebundenen Schnürsenkel seiner Schuhe stolperte und sich beide Beine brach.
Der Zeichenkurs endete nicht minder tragisch. Der zittrige Pinselstrich des Zeichenlehrers führte der entsetzten Mutter vor Augen, dass seine Leidenschaft eher vollen Weinflaschen als leeren Leinwänden galt.
Auf dem Höhepunkt der Unglücksserie brannte die Halle ab, in welcher das Fräulein „So-La-La“ für Tennisstunden eingeschrieben war.
Der Zufall leistete ganze Arbeit. Der Terminkalender der Mutter war nur noch ein Schatten seiner selbst.
Während das Fräulein „So-La-La“ die unbeschwerten Tage genoss, blieb die Mutter blind für die Warnungen, den Fingerzeig des Schicksals ernst zu nehmen.
Verzweifelt mühte sie sich ab, die Löcher im Terminkalender mit neuen Aufgaben zu stopfen.
Unermüdlich telefonierte sie mit Kinderakademien, Talenteschmieden und Sportvereinen. Aber trotz ihrer Anstrengungen breiteten sich die weißen Lücken im Kalender wie eine Seuche unaufhaltsam aus.
Kein Tag verging, ohne dass der Zufall eine neue Bresche in den minutiös geplanten Tagesablauf schlug. Nach wochenlangem Ringen blieb als einzige Termin der tägliche Besuch bei der Großmutter übrig.


Auf dem Höhepunkt der Krise rief die Mutter am Küchentisch eine Familienkonferenz ein. Sie übernahm den Vorsitz. Der Vater war für das zustimmende Kopfnicken zuständig. Das Fräulein „So-La-La“ saß als stumme Zeugin in ihrer Mitte. Zur Zerstreuung drückte ihr die Mutter ein wahllos aus dem Regal gezogenes Bilderbuch in die Hand.
Bei Kaffee und Kuchen wurde beraten, mit welchen Maßnahmen das drohende Schlappe abzuwenden war.
Anhand der weißen Lücken im Terminkalender schilderte die Mutter die
Gefahrenlage. Das Bollwerk gegen den Zufall bröckelte an allen Ecken und Enden. Ungeachtet der zahllosen Niederlagen signalisierte die Mutter weiterhin keinerlei Bereitschaft, die Aussichtslosigkeit ihres Kampfes einzugestehen.
„Der Zufall verleitet zu Müßiggang und Faulenzerei.“, eröffnete sie die Feindseligkeiten und nippte an ihrer Tasse.
Der Vater nickte eilfertig und biss ein Stück vom Kuchen ab.
„Das Leben ist zu kurz, um es dem Zufall zu überlassen.“, brachte die Mutter die zweite Angriffswelle ins Rollen.
Abermals wackelte der Kopf des Vaters willfährig auf und ab.
Der Zufall steckte die Schläge der Mutter geduldig ein. Es wäre ihm ein Leichtes gewesen, sich in den Vorteil zu bringen.
Ein kurzer Anruf, der den Vater zu einem Notfall ins Büro befahl, hätte schon gereicht, die Entscheidung zu seinen Gunsten zu bringen.
Gleiches Unheil hätte auch die unangekündigte Lieferung der letzten Großbestellung der Mutter aus dem Versandhauskatalog gestiftet.
„Du hast nichts als deine Arbeit im Kopf.“, hätte die Mutter getobt und ihre Kanonen auf den ins Büro eilenden Vater gerichtet.
„Haben wir nicht schon genug Rechnungen im Haus?“, wäre der Vater angesichts der Größe der Paketlieferung explodiert.
Nichts von alldem geschah. Der Zufall rührte keinen Finger. Ohne Gegenwehr ertrug er die Anschuldigungen.


Der Groll über die weißen Lücken im Terminkalender des Fräuleins „So-La-La“ stachelte die Mutter zu einem verhängnisvollen Frontalangriff an.
„Ich wäre nicht geworden, was ich bin, wenn ich mich dem Zufall anvertraut hätte.“, donnerte sie siegesgewiss und schlug mit der Faust auf den Tisch.
Der Vater beeilte sich, es ihr gleich zu tun.
Das Fräulein „So-La-La“, das schweigend in ihrer Mitte saß, spürte ein leichtes Kitzeln auf ihrer Zunge.
Zufällig handelte das Bilderbuch, in dem sie blätterte, von einer Meerjungfrau, deren Gesichtszüge denen ihrer Mutter zum Verwechseln ähnlich waren.
„Ich wlil acuh enie „Mher-Jnugs-Faru“ sien.“, platzte es unvermittelt aus ihr heraus.
Der Zufall blickte zufrieden auf das Geschehen, das sich vor ihm abspielte. Der Versprecher einer übermütigen Zunge hatte ihm einen großartigen Sieg beschert.
Der Vater erschrak über das Gehörte derart, dass er seinen Kuchen ausspuckte. Der Mutter fiel im Schock die Kaffeetasse aus der Hand.
Der Zufall blinzelte der Mutter schadenfroh ins Gesicht . Eindrucksvoll hatte er ihr die Überlegenheit seiner Natur vor Augen geführt.
Die aus der Tasse schwappende Kaffeebrühe ergoss sich über den Terminkalender. Die schwarze Flut riss einen ganzen Wochenplan ins Verderben.
Mit hochrotem Kopf verließ die Mutter fluchtartig das Schlachtfeld.
Der Versprecher des Fräuleins „So-La-La“ besiegelte das vorzeitige Ende der Konferenz. Es wurden keine Beschlüsse gefasst. Niemand hielt eine Abschlussrede. Man einigte sich darauf, dass sie nie stattgefunden hatte.
Die Mutter heulte nachts das Bettkissen nass. Der Vater drückte ihre Hand und starrte zur Decke hoch.
Im Schlafzimmer herrschte stockdunkle Nacht. Die Fenster waren verriegelt und die Vorhänge zugezogen. Der Schlüssel in der Tür steckte umgedreht im Schloss.
Sie führten ein langes Gespräch.
„Diese Schande ertrage ich nicht.“, bemitleidete sich die Mutter in ihrem Unglück.


Der Vorfall am Tisch hatte sie bis in die Seele erschüttert. Der Gedanke, von der eigenen Tochter für eine Mehr-Jungs-Frau gehalten zu werden, war ihr unerträglich.
Ihr letzter Blick galt dem neuen Terminkalender, der auf dem Nachtkästchen zum Gegenangriff bereit lag.
„Keine freie Minute soll er mehr darin finden, um ein kleines Mädchen ins Unglück zu stoßen.“, schwor sie ihrem Gegner finstere Rache.
Im gleichen Augenblick wehte aus dem Nichts kommend ein eisiger Luftzug durch den Raum und wirbelte die Kalenderblätter hoch.
Die Mutter ignorierte die Warnung.
„Es geschieht zu ihrem Besten.“, machte sie sich selbst Mut.
Ein tiefer Schlaf erlöste sie von ihrem Ärger. Sie ahnte nichts von dem unseligen Geist, der sich zur gleichen Zeit im Schutz der Dunkelheit ins Zimmer des Fräuleins „So-La-La“ schlich.
Der Zufall, der an der Tür lehnte, ließ sie ihn schweigend gewähren. Keine Regung an ihm verriet, ob es ihn kümmerte, was nun geschah.
In dieser Nacht kämpfte das Fräulein „So-La-La“ den schwersten Kampf ihres Lebens. Nicht weil es das Beste für sie war. Nicht weil es in ihrem Terminkalender stand. Es passierte, weil es der Zufall so wollte.
Als sie die Augen aufschlug, fühlte sich ihr Kopf wie ein glühender Feuerball an. Die Stirn brannte lichterloh. Die Wangen dampften unter einem heißen Fieber. Jeder Atemzug schmerzte unter der unsichtbaren Last, die auf ihre Brust drückte.
Die Bilder vor ihren Augen zerrannen zu einem wilden Tanz. Das Bett drehte sich im Walzer. Der Lampenschirm an der Decke schlug Pirouetten. Die Wände sprangen Polka durch das Zimmer. Die Kästen und Regale hüpften Sirtaki. Und die Vorhänge im Fenster flatterten zu einem Tango hoch.
Fast hätte sie den Riesen nicht bemerkt, der an ihrer Bettkante saß. Er musste den Kopf schief halten, dass er nicht gegen die Decke stieß. Sein Gesicht sah verbeult aus, als wäre es vor langer Zeit in einen Boxkampf geraten, den ein anderer gewonnen hatte.


Seine Hände waren groß wie Bratpfannen. Aus den Ohren ragten ihm dünne Rohre mit dünnen Schläuchen daran. An ihrem Ende waren waren mit einer münzgroßen Metallscheibe verbunden, die über seinem Bauch baumelte.
Der Riese strich ihr die verschwitzten Haarsträhnen aus den Wangen und tupfte die glutheiße Stirn mit einem feuchten Tuch ab. Er griff nach ihrem Arm und maß den Puls. Seine Mundwinkel zuckten im Takt ihrer Herzschläge. Auf seiner Stirn wölbten sich dicke Falten.
„Ich fürchte, ich muss dich mitnehmen.“, sagte er.
Das Fräulein „So-La-La“ wich entsetzt zurück . Rasend vor Angst schlug sie mit Armen und Beinen auf den hässlichen Riesen ein, der versuchte, sie mitten in der Nacht aus ihrem Bett zu zehren, um sie an einen unbekannten Ort zu verschleppen.
Als sie den Mund öffnete, um ihre Mutter zu Hilfe zu rufen, brachte der verrückte Clown in ihrem Mund keinen Pieps hervor.
Das Fieber, das in ihrem Kopf tobte, flüsterte ihr Schauerliches ins Ohr.
„Nun nimmt es ein schlimmes Ende mit dir.“, kicherte es schadenfroh.
„Der Zuflal wrid mcih rteten.“, bettelte das Fräulein „So-La-La“ im Fieberwahn um ein Wunder.
Das Fieber zeigte sich unbeeindruckt.
„Deine Hilfe kommt zu spät. Der Riese an deinem Bett schlägt ihn mit einem Hieb mausetot.“, verkündete es siegessicher.
Sein heißer Atem blies dem Fräulein „So-La-La“ unheilschwanger ins Gesicht.
„Zuflälig ghet der Schalg ins Leree.“, hielt sie dem Fieber tapfer dagegen.
Das Fieber reagierte auf die unerwartete Gegenwehr mit einem ärgerlichen Grunzen.
„Der Riese packt ihn mit bloßen Händen am Hals.“, zischte es.
Das Fräulein „So-La-La“ spürte wie sich eine heiße Flammenwelle durch ihren Körper walzte.
„Niemlas.“, kreischte sie in Schweiß gebadet.
„Zuflälig strüzt ein Bcüherrgeal auf den Reisen.“
„Auch gut.“, steckte das Fieber den Schlag ein, ohne von dem Fräulein „So-La-La“ abzulassen.
Ihre Zunge kämpfte weiter wie ein Löwe.


„Zuflälig schälgt ein Bcuh dem Resien die Nsae bultig.“, verschaffte sie dem Zufall eine Atempause.
„Das Blut lässt den Riesen noch wütender werden.“, begann sich das Fieber an dem ungleichen Ringen zu langweilen.
Im Glauben, einen leichten Sieg davonzutragen, kämpfte es nicht mehr mit letztem Einsatz. Diese Überheblichkeit nutzte das Fräulein „So-La-La“.
Ein letztes Mal bündelte sie alle verbliebenen Kräfte für einen Angriff.
„Zuflälig stlopert der Resie im Dnukeln üebr das Fharrad, das utner dem Fenster sthet.“, lockte sie das Fieber in einen Hinterhalt.
„Dadurch ändert sich nichts. Der Riese rappelt sich wieder auf die Beine.“, grunzte das Fieber verärgert, ohne die Falle zu bemerken.
Nun ließ das Fräulein „So-La-La“ sie zuschnappen.
Durch jede Geschichte führte ein roter Faden, der vom Anfang bis zum Ende reichte. Wenn man daran zog, tat die Geschichte, was man von ihr wollte.
Das Fräulein „So-La-La“ zögerte keine Sekunde.
„Zuflälig sthet das Fnester ofefen, als der Resie uebr das Fharrad stlopert. Er strüzt auf die Starße hinutner und bircht sich das Gencik.“, riss sie mit aller Macht den Faden der Geschichte an sich.
Bange Sekunden verstrichen, ohne dass etwas passierte. Das Fieber lachte sich halbtot vor Schadenfreude.
„Der Riese ist nicht tot.“, amüsierte es sich über den misslungenen Versuch, den Ausgang der Geschichte zu ändern.
Bestürzt musste das Fräulein „So-La-La“ miterleben, wie das Fieber recht behielt. Obwohl sie den roten Faden in der Hand hielt, tat die Geschichte nicht, was sie wollte. Der Riese war über das Fahrrad gestolpert und aus dem Fenster gestürzt.
Aber er lag nicht mit gebrochenem Genick auf dem Fußweg vor dem Haus.
Deutlich konnte sie seine Finger erkennen, die sich am Fensterrahmen festkrallten.
Starr vor Angst verfolgte das Fräulein „So-La-La“ das Geschehen, das sich wenige Schritte von ihr entfernt abspielte.


Langsam stemmte sich der Riese mit den stählernen Muskeln seiner Arme an der Fassade hoch. Sein wutverzerrtes Gesicht tauchte bedrohlich im offenen Fenster auf.
Das Fieber führte einen Freudentanz auf. Siegestrunken schwang es sich auf die Schultern des Riesen.
„Am Ende geschieht das Unvermeidliche.“, höhnte es.
Wenige Zentimeter fehlten dem Riesen noch, bis er wieder festen Boden unter den Füßen hatte.
Den Untergang vor Augen wagte das Fräulein „So-La-La“ das Äußerste. Sie sprang aus dem Bett und stürmte zum Fenster vor, wo sie dem Riesen einen heftigen Stoß gegen die Brust versetzte.
„Zuflälig whet ein Strum vorbei und schälgt die Fensterldäen zu.“, schrie sie aus voller Brust.
Dieses Mal hatte sie den Faden an der richtigen Stelle erwischt. Beim zweiten Anlauf tat die Geschichte, was sie von ihr wollte.
„Was hast du gemacht?“, heulte das Fieber erschrocken auf.
Der Riese war durch den unerwarteten Schlag aus dem Gleichgewicht geraten. Er schwankte. Aber er fiel nicht. Da fegte aus dem Nichts ein gewaltiger Orkan durch die Straße.
Krachend schlugen die Fensterläden zu.
Die scharfen Metallkanten schnitten die Finger des Riesen mitten durch. Nichts konnte ihn mehr retten. Mit rudernden Armen stürzte er in sein Verderben.
Das Fieber, das auf seinen Schultern saß, versuchte, sich mit einem Sprung ins Zimmer zu retten. Aber es prallte an den geschlossenen Fenstern ab und folgte dem Riese in die Tiefe.
Seine markerschütternden Schreie schreckten das Fräulein „So- La-La“ aus dem Schlaf.
Es war dunkel im Raum. Sie lag mit dem Rücken auf dem Bett. Ihre Finger hatten sich tief in die Bettlaken gekrallt. Vorsichtig blickte sie sich um.
In einer Ecke des Zimmers konnte sie die schummrigen Umrisse einer Gestalt erkennen. Sie erkannte ihn sofort und lächelte ihm zu.
„Danke, dass du mcih vor dem Reisen geretett hsat.“, sprach sie ihn an.
Im Schatten nahm sie eine Bewegung wahr, als würde jemand mit dem Kopf nicken.


Erschöpft sank sie in die Kissen zurück, wo sie ein langer Schlaf sanft auffing.
Als sie am nächsten Morgen aufwachte, blinzelte bereits die Mittagssonne durch das Fenster. Die Luft roch nach frisch gewaschenen Daunen. Eine leichte Pfefferminzbrise umspielte ihre verbrannten Wangen.
Der Himmel über ihr war weiß gestrichen. In seiner Mitte tauchte ein Gesicht auf, das nicht verbeult war.
„Mein tapferer Engel ist endlich aufgewacht.“
Die vertraute Stimme ließ das Fräulein „So-La-La“ erleichtert aufatmen.
Der Riese war verschwunden und mit ihm das Fieber.
An seiner Stelle wachte die Mutter an ihrem Bett und tupfte ihr mit einem Lappen die Stirn.
Mit überschlagender Stimme berichtete das Fräulein „So-La-La“ in allen Einzelheiten von ihrem Kampf mit dem Riesen und von dem Zufall, der sie in letzter Sekunde gerettet hatte.
Sie hatte gerade die Stelle erreicht, an dem der Riese aus dem Fenster stürzte, als ihr die Mutter ins Wort fiel.
„Woran du dich zu erinnern glaubst, ist nicht wirklich passiert. Es hat keinen Zufall gegeben. Das Fieber hat dir diesen Unsinn vorgegaukelt.“, fiel sie ihr sanft ins Wort.
Das Fräulein „So-La-La“ protestierte heftig.
„Der Resie wlolte mcih entfhüren. Der Zuflal hat mcih gertetet.“, behauptete sie.
Ein lautes Knacksen ertönte im Raum. Innerhalb von Sekunden erschütterte ein ohrenbetäubender Knall die Wände.
Bevor sich das Fräulein „So-La-La“ unter die Bettdecke in Sicherheit bringen konnte, klatschte ihr der tropfnasse Lappen mitten ins Gesicht.
„Das Fieber hat dir einen bösen Streich gespielt. Der Riese war nichts weiter als ein Trugbild in deinem Kopf.“, tobte die Mutter mit hochrotem Kopf.
Im nächsten Moment brach sie in bittere Tränen aus. Minutenlang saß sie regungslos auf dem Stuhl und sprach kein Wort.


Nachdem sie ihren gerissenen Geduldsfaden notdürftig zusammengeflickt hatte, schilderte die Mutter die Ereignisse, wie sie sich wirklich zugetragen hatten.
Im Fieberwahn hatte sich das Fräulein „So-La-La“ an der riesenhaften Gestalt des Arztes erschrocken, der mitten in der Nacht an ihr Bett geeilt war.
„Du hast den armen Mann gekratzt und gebissen. Wir mussten dich an Armen und Beinen festhalten.“, sagte die Mutter.
Das Fräulein „So-La-La“ starrte sie ungläubig an. Zu lebhaft hatte sich der nächtliche Kampf mit dem Riesen in ihr Gedächtnis eingebrannt.
Die Mutter benötigte viel Geduld, um sie vom Gegenteil zu überzeugen.
Behutsam führte sie dem Fräulein „So-La-La“ die Widersprüche ihrer Erinnerung vor Augen.
Im Zimmer fanden sich nirgendwo Spuren eines Kampfes. Alles war in bester Ordnung. Die Bücher standen Rücken an Rücken im Regal. Das Fahrrad unter dem Fenster hatte keinerlei Kratzer im Blech.
Als sie sich im Arm der Mutter aus dem Fenster beugte, lag kein Riese mit gebrochenem Hals im Garten.
Nach und nach dämmerte dem Fräulein „So-La-La“ die Wahrheit.
„Bin ich sher karnk gewseen?“, wollte sie wissen.
Die Antwort spiegelte sich im erschöpften Gesicht der Mutter.
„Der Kampf stand auf Messers Schneide. Ohne die Medizin des Arztes hätte das Fieber gewonnen.“, sagte sie.
Das Fräulein „So-La-La“ hatte die Stelle gefunden, nach der sie gesucht hatte.
Wer hat den Azrt gerfuen?“, hakte sie ein.
Arglos tappte die Mutter in den Hinterhalt.
„Jemand hat den Wecker auf die falsche Uhrzeit gestellt.“, schilderte sie die Umstände der dramatischen Rettung.
Sein Sturmgeläut hatte um Mitternacht das ganze Haus aus dem Bett geholt.
Einmal wach hatte die Mutter das Stöhnen des Fräuleins „So-La-La“ gehört und war in ihr Zimmer gestürmt.


„Es war ein Glück. “, sagte sie.
„Das Fieber hatte dich beinahe schon verschlungen.“
„Dnan war es der Zuflal, der mcih gertetet hat.“, nannte das Fräulein „So-La-La“ ihren Retter beim Namen.
Augenblicklich lief das Gesicht der Mutter puterrot an. Abermals rumorte ein lautes Knacksen im Raum. Doch dieses Mal blieb die Explosion aus.
Nach bangen Sekunden beruhigte sich die Schnappatmung der Mutter wieder.
„Nie zuvor in meinem Leben hatte ich einen größeren Schatz zu hüten als dich.“, stammelte sie unter Tränen.
„Seit deiner Geburt quälte mich die Furcht, der Aufgabe nicht gewachsen zu sein. Jede Nacht flüsterte mir die Angst ihre schrecklichen Botschaften ins Ohr.“
An dieser Stelle versagte die Stimme der Mutter. Von ihren Gefühlen überwältigt sprang sie vom Stuhl hoch und stürzte aus dem Zimmer.
Nach wenigen Minuten kehrte sie mit dem Terminkalender in der Hand zurück. Ein Blick in den Spiegel hatte ihre entgleisten Gesichtszüge wieder zurecht gerückt.
„Welchen Narren hat dieses Ding aus mir gemacht.“, sagte sie.
Vor den Augen des Fräuleins „So-La-La“ nahm sie den Kalender in beide Hände und riss ihn in kleine Fetzen.
Sie holte tief Luft, als müssten sich ihre Gedanken über einen steilen Anstieg hoch quälen.
„Die uneinnehmbare Festung hat es nie gegeben. Der Zufall hat meinen Hochmut bitter bestraft. Er hat mir bewiesen, dass ihm ein unachtsamer Augenblick genügt, um alle Urkunden und Diplome in nutzlosen Trödel zu verwandeln.“
„Knanst Du ihn jtezt bseser lieden?“, fragte das Fräulein „So-La-La“.
Das Nicken der Mutter kam zögerlich. Ihren Augen war deutlich abzulesen, wie viel Mühe es sie kostete, den Geduldsfaden in Zaum zu halten.
„Ich werde versuchen, in Zukunft mit ihm zurecht zu kommen.“, seufzte sie.
Als Zeichen, wie ernst es ihr mit dem Vorsatz war, öffnete sie das Fenster und warf ihn hinaus.


Ein Windstoß erfasste die losen Fetzen und wirbelte sie in alle Himmelsrichtungen auseinander.
Die Malstunden des Fräuleins „So-La-La“ zerstreuten sich im Süden. Der Ballettkurs verschwand gegen Osten. Den Klavierunterricht zog es nach Norden. Und die Tennisstunden flatterten in Richtung Westen davon.
Was bis vor wenigen Stunden den Tagesablauf des Fräuleins „So-La-La“ mit eiserner Hand bestimmt hatte, verschwand auf Nimmerwiedersehen aus ihrem Leben.
„Das hätte ich längst tun sollen.“, erklärte die Mutter.
„Von nun an lassen wir uns von der Zeit treiben wie die Fische, die mit der Strömung schwimmen.
Das Fräulein „So-La-La“ war sofort Feuer und Flamme.
Die Fische brauchten keinen Terminkalender. Sie vertrauten dem Wasser, in dem sie schwerelos dahin glitten.
„Oedr wir filegen wie Schmteterligne druch die Lfut.“, begeisterte sie sich mit einer kleiner Abänderung an dem Vorschlag der Mutter.
Es gefiel ihr besser, ein Schmetterling sein, der über eine Blumenwiese flog, als ein Fisch im kalten Wasser.
Die Mutter nickte zustimmend. Sie bestand nicht weiter darauf, mit den Fischen zu schwimmen.
„Was immer du willst.“, lachte sie.
„Wir werden leben wie die Mäuse im Speck.“
Das Fräulein „So-La-La“ warf sich der Mutter an den Hals. Während sie sich die Zukunft in den schönsten Farben ausmalte, ergoss sich ein warmer Strom über ihr Gesicht.
Die Mutter weinte. Die Tränen rannen in dicken Tropfen über ihre Wangen.
Ein verdächtiges Geräusch schreckte das Fräulein „So-La-La“ auf. Sie streckte den Kopf zur Tür.
Aus den Augenwinkeln beobachtete sie eine schemenhafte Gestalt, die langsam zur Tür hinaus schlich.
Sie erkannte ihn auf den ersten Blick. Er hatte in der Nacht an der Wand gestanden, als sie gegen das Fieber kämpfte.


Heimlich warf sie ihm zum Abschied eine Kusshand hinterher.
Wie seltsam der Zufall war, dachte sie.
Einmal blieb er stumm und rührte keinen Finger. Und ein anderes Mal ließ er einen Wecker, den niemand gestellt hatte, Sturm läuten.
Mit dem gleichen Fleiß, mit dem er ein Leben rettete, verschleuderte er ein anderes.
Er war niemandes Freund. In seinem Charakter war er weder gut noch böse. Die Menschen hassten ihn, weil er ohne jede Absicht war. Gerade deswegen vertrauten sich ihm die Tiere an.
Kein Fisch fürchtete sich davor, an einem Haken aus dem Wasser gezogen zu werden. Kein Schmetterling wurde von dem Gedanken gepeinigt, im Schnabel eines Vogels zu enden. Keine Maus quälte sich mit der Angst, von einer Katze aufgefressen zu werden. „Wie Rceht sie hbaen.“, murmelte das Fräulein „So-La-La“.
Nicht jeder Fisch endete in einem Netz. Nicht alle Schmetterlinge verschwanden im Schnabel eines Vogels. Und die allermeisten Mäuse entkamen dem Hunger der Katzen.
Aus dieser Zuversicht schöpfte das Fräulein „So-La-La“ den Mut, nach dem ihre Mutter lange vergeblich gesucht hatte.
Solange die Fische, Schmetterlinge und Mäuse ihre Zukunft nicht fürchteten, musste niemand Angst davor haben.