Das Gesicht (Entwurf)

Der Bär sollte recht behalten.  Solange er mit dem Bären im Arm durch die Straßen lief, hatten die Menschen keine Angst vor Ihnen. Wahrscheinlich dachten sie, dass ein Bär, der eng umschlungen mit einem Drachen spazierte, andere Sorgen hatte, als über  die Plünderung ihrer Honigtöpfe nachzudenken. Und ein Drache, der seinen Kopf an die Schulter eines Bären lehnte, musste sein Feuer zügeln, um seinen pelzigen Freund nicht in Flammen aufgehen zu lassen.
Niemand wechselte die Straßenseite, wenn er den Bären auf sich zukommen sah. Und niemand floh Hals über Kopf aus der Stadt, wenn ihn der Rauch in der Nase kitztelte, der die Anwesenheit des Drachen verriet.
Man gewöhnte sich an den Anblick des seltsamen Paares. Aber nicht überall wurde die Freundschaft wohlwollend gesehen.  Mancherorts beäugte man sie mit Argwohn.
„Unsereins verdient etwas Besseres als die Gesellschaft eines Bären.“ rümpfte die Drachenmeute die Nasen über die ungewöhnliche Zweisamkeit.  Die Bärenfreunde beglückwünschten den Bären.  Denn noch war es einem von ihnen gelungen, das Herz eines Drachen zu erobern. Hinter vorgehaltener Hand prophezeiten sie ihm jedoch ein schlimmes Ende.
„Es wird nicht lange dauern, bis sie ihn in Schutt und Asche legt.“, heuchelten sie Mitleid, das wie Schadenfreude klang.
Die Tuscheleien hinter ihrem Rücken blieben dem Bären und dem Drachen nicht verborgen.
Nach einigen Gläsern Wein drehte sich ihr Gespräch nur noch darum
„Warum willst mit einem Drachen befreundet sein?“, forderte der Drache den Bären heraus.
Der Bär druckste verlegen herum.  Er hatte sich darüber noch nie Gedanken gemacht. Er wusste es selbst nicht.  Er hatte sein Leben lang in Bärengesichtern gedacht und nun saß er einem Drachengesicht gegenüber, das ihn verzauberte, ohne dass er den Grund dafür kannte.  Es war ihm einfach passiert.
„Mir gefällt dein Gesicht.“, rettete er sich in das Nächstliegende.
Der Satz hätte verhängnisvoller nicht ausfallen.  können. 
Die Falle schnappte endgültig  zu.  Und der Bär spürte, dass es keinen Weg für ihn gab, daraus zu entkommen.
„Was gefällt dir an einem Drachengesicht.“, wollte der Drache es genauer wissen.
„Ich mag dein Gesicht, weil es schöner wird, je länger man hineinsieht.“ redete sich der Bär um Kopf und Kragen.
„Ich mag deine Drachenaugen, deine Drachennase, deine Drachenlippen, deine Drachenzähne.“
Die Litanei des Bären setzte sich endlos fort. 
Der Ausdruck im Gesicht des Drachen verriet seine Unzufriedenheit.  
„Was fühlst du, wenn Du mich ansiehst?“ forderte er eine Nachbesserung. 
Nun war es einem Bären nicht in die Wiege gelegt, über Gefühle zu sprechen.  Der Bär rang verzweifelt nach den richtigen Worten.
Das einzige Gefühl, das er beschreiben konnte, hatte mit seiner nächtlichen Honigjagd zu tun.
„Es gibt eine Stelle im Wald.“, begann er mit zittriger Stimme. Sein zotteliges Fell glänzte schweißnass. 
„Dort ist das Dickicht voller Stolperfallen. Die Bäume stellen sich wie dunkle Gestalten mit schlimmen Absichten in den Weg. Man sieht die Hand nicht vor Augen. Aber plötzlich geschieht etwas Seltsames.  Das Dickicht verschwindet.  Die Bäume treten auseinander.  Ein Weg öffnet sich.  Man tritt in eine helle Lichtung mit einer Wiese, in deren Mitte ein dunkler Weiher ruht, in dem sich die Sterne spiegeln, die am Himmel funkeln. Diese Lichtung spüre ich in mir, wenn ich in den Gesicht blicke.“
Der Drache war sichtlich beeindruckt. Etwas Vergleichbares hatte er vorher noch nie zu hören bekommen. Der Bär atmete tief durch. Langsam beruhigte sich sein Puls. 
Nachdem die Gefahr gebannt war, von einem übellaunigen Drachen zu Schutt und Asche verkohlt zu werden, nahm er all seinen Mut zusammen.
„Was gefällt dir an einem Bären?“
Die Frage war klar gestellt. Die Antwort fiel nicht weniger eindeutig aus,
„Ich mag keine Bären. Sie gehen mir zu schnell in Flammen auf.“, sagte der Drache. 
Der Bär spürte wie ihm der Boden weggezogen wurde.
„Warum sind wir dann Freunde.“, brach es aus ihm heraus
„Ich habe mir mein Leben lang, jemanden gewünscht, der mich nicht als Drache fürchtet, der Feuer spuckt.
„Hast du ihn gefunden?“, fragte der Bär
„Ich habe lange gesucht.“, seufzte der Drache
„Warum.“
„Weil ich nicht gewusst habe,  dass meine Suche einem pelzigen Bär gilt.“
Der Bär spürte sein Herz laut in der Brust schlagen. Es klang wie das freudige Läuten einer Glocke.
Er erhob sich von seinem Platz und streckte die Pranken aus. Der Drache erhob sich ebenfalls.  Sie umarmten sich.  Nachdem sie sich lange genug umarmt hatten, küssten sie sich. Aus dem Mund des Drachens züngelte ein Feuer heraus.  Der Bär ging in Flammen auf.  Der Drache tat nichts, um es löschen.