


Manchmal erzählte die Großmutter dem Fräulein „So-La-La“ Geschichten, die gar keine richtigen Geschichten waren. Sie waren etwas anderes.
Dazu gehörte auch die Geschichte des Reisenden, der rastlos von einem Ort zum anderen eilte. Auf seiner langen Reise bezog er Quartier an wundervollen Plätzen, die ihm eine herrliche Aussicht boten. Dennoch zog es ihn ständig fort. Nie kreuzten sich seine Wege. Nie kehrte er an die gleiche Stelle zurück.
Wenn er nachts sein Lager aufschlug, wachte er am nächsten Tag an einem anderen Ort auf. Wenn er ihn im Morgengrauen verließ, erkannte er ihn in der Abenddämmerung nicht wieder.
Zuerst bemerkte der Reisende die Unterschiede nicht. Aber bald begannen die Veränderungen größer zu werden. Menschen, die ihn auf seiner Reise begleiteten, verschwanden spurlos. Dinge, die ihm selbstverständlich und vertraut waren, verblassten zu fernen Erinnerungen.
Irgendwann übermannte den Reisenden die Gier. Der Gedanke, die Kostbarkeiten, an denen er sich nicht satt sehen konnte, zurückzulassen, wurde ihm unerträglich. Er schaffte sich riesige Koffer an. In jedem war genug Platz, um eine ganze Elefantenherde hineinzustopfen.
„Endlich kann ich alle Schätze behalten.“, jubelte der Reisende und begann, die Koffer mit Dingen anzufüllen, denen er auf seiner Reise begegnete.
Es fiel ihm nicht leicht, das Wichtige von dem Unwichtigen zu trennen. Bald raffte er alles an sich, ohne sich die Frage zu stellen, ob es Sinn machte, etwas zu behalten.
Seine Koffer füllten sich rasch. Zu den alten Koffern kamen neue hinzu.
Längst hatte der Reisende den eigentlichen Zweck seiner Reise aus den Augen verloren. Das Ankommen und Fortgehen fiel ihm durch das Gewicht der Koffer, die er mit sich schleppte, mit Fortdauer der Reise immer schwerer. Die Anstrengungen gruben sich tief in sein Gesicht. Seine Haare färbten sich grau. Der Rücken wurde ihm krumm. Und jeder Schritt zur Qual.


Einzig der Blick auf sein Gepäck entschädigte ihn für alle Mühen.
In Waggons verladen, erreichte der Zug eine Länge, bei der es Tage dauerte, eine einzige Bahnschranke zu passieren. Eines Tages ereignete sich etwas Unerwartetes. Der Reisende verschwand spurlos von der Bildfläche. Seine einzige Hinterlassenschaft waren die unzähligen Koffer, die herrenlos zurückblieben.
„Was ist mit ihm pasisert?“, heuchelte das Fräulein „So-La-La“ Interesse für das Schicksal des Reisenden. In Gedanken badete sie bereits in den verwaisten Schätzen.
„In seinen Koffern fand sich kein einziger Hinweis, der Aufschluss über seinen Verbleib geben konnte.“, antwortete die Großmutter.
„Als man sie öffnete, waren sie allesamt leer.“
Das Fräulein „So-La-La“ war wie vom Donner gerührt.
Wohin waren all die Kostbarkeiten verschwunden, die der Reisende gehortet hatte?
„Es hat sie nie gegeben.“, beantwortete die Großmutter die Frage, die sie in den Augen ihrer Enkelin las.
Manchmal erzählte die Großmutter Geschichten, die etwas anderes waren. Die Geschichte des Reisenden gehörte dazu. Es war darin nur die Rede davon, dass das Leben eine kurze Reise durch das Licht ist und das GESTERN, HEUTE und MORGEN wundervolle Plätze mit einem herrlichen Blick in die Welt sind. Aber bei der Abreise bleibt die Aussicht auf dem Balkon immer zurück. Wer trotzdem versucht, sie mitzunehmen, vergeudet sein Leben mit Koffern, die leer sein werden, wenn man sie öffnet.
ENDE.