

In ihrer äußeren Erscheinung unterschied sich das Fräulein „So-La-La“ wenig von anderen Mädchen, deren Alter sich an den Fingern einer Hand abzählen lässt. Sie war schmal wie eine Scheibe Brot, wog weniger als ein Sack Hühnerfedern und passte aufrecht unter jeden Küchentisch, ohne mit dem Kopf anzustoßen. Sobald sie jedoch die Lippen bewegte, verwandelte sich ihre Zunge in einen verrückten Clown, der ihr jedes Wort im Mund verdrehte.
Da fand sich ein A, wo keines hinpasste. Da hörte man ein L, wo keines sein sollte. Da hoffte man verzweifelt auf ein F, wo es dringend gebraucht wurde. Da wartete man vergeblich auf ein U und ein R, wo sie unabkömmlich waren.
Bald war dem Fräulein „So-La-La“ das Sprechen verleidet.
Bloß wohin mit all den Gedanken, die ihr ständig in den Sinn kamen?
Hilflos musste das Fräulein „So-La-La“ mitansehen, wie ihr Kopf langsam zu einem riesigen Schwamm anschwoll.
Schon beim morgendlichen Blick in den Spiegel stieg ihr Kummerpegel gefährlich an. Jeder neue Tag brachte sie den düsteren Vorahnungen ein Stück näher.
Es schien nur eine Frage der Zeit zu sein, bis ihr Kopf wie ein zu groß aufgeblasener Luftballon zerplatzte.
In ihrer Not wandte sich das Fräulein „So-La-La“ an ihre Großmutter.
Oma Rosa musste nicht lange überlegen, um zu wissen in welcher Gefahr das Fräulein „So-La-La“ schwebte. Sie war in einem Alter, in dem sie schon viele aufgeblähte Köpfe gesehen hatte.
„Meist lösen sie sich mit einem ohrenbetäubenden Knall in Luft auf.“, sagte sie.
Zum Glück hatte sie ein passendes Gegenmittel zur Hand, mit dem sich das Schlimmste verhindern ließ.
„Die beste Medizin ist es, unnötigen Ballast abzuwerfen, bevor es zu spät ist.“
Ohne weitere Erklärungen kramte sie aus einer Küchenlade einen Kasten mit bunten Stiften hervor. Dann riss sie aus dem Notizblick, in dem sie für gewöhnlich ihre Einkäufe notierte, einige leere Seiten heraus.


Nachdem sie mit einem der Stifte einige Linien und Kreise vorgezeichnet hatte, drückte sie ihn dem überraschten Fräulein „So-La-La“ in die Hand.
„Nichts bringt die Gedanken besser zum Fließen, als ein Stift.“, machte sie ihrer verdutzten Enkelin Mut.“Diese Methode hat schon viele aufgeblasene Köpfe gerettet.“, ergänzte sie augenzwinkernd.
Zögerlich setzte das Fräulein „So-La-La“ den Stift auf das Papier. Die ersten Striche gingen ihr noch schwer von der Hand. Aber bereits nach wenigen Versuchen stürzte sie sich mit Feuereifer in die Arbeit. Der Stift in ihrer Hand glitt federleicht über das Papier.
Plötzlich spielte es keine Rolle mehr, ob ihre Zunge verrückt spielte. Denn ein Maler brauchte mit Worten, um seine Geschichten erzählen. Er erzählte sie mit seinen Bildern.
Das Fräulein „So-La-La“ spürte wie der Druck in ihrem Kopf mit jedem Strich schwächer wurde. Ohne die Lippen bewegen zu müssen, flossen die aufgestauten Gedanken wie eine Sturzflut aus ihr heraus.
Innerhalb weniger Tage quollen die mit leichter Hand hingeworfenen Zeichnungen aus allen Schubladen.
Aus jedem Blatt grinste ein melonengroßer Kugelkopf sein ratloses Publikum an.
„Ich mlae Lfutblalonknider.“, begeisterte sich das Fräulein „So-La-La“ an ihren unförmigen Geschöpfen.
Auch Kugelköpfe waren eitle Wesen, die gerne Schmeicheleien hörten.
Ein Luftballon musste nicht den Spott der hochgezogenen Augenbrauen, gestreckten Zeigefinger und mitleidigen Stimmen fürchten.
Es entsprach seiner Natur kugelrund zu sein. Die Form änderte nichts an der Würde, die er ausstrahlte. Noch der dickste Luftballon schwebte leicht wie eine Feder durch die Luft.
Je mehr sich die Zeichnungen glichen, umso zufriedener fiel das Urteil des Fräuleins „So-La-La“ aus.
Ein auf das andere Mal passten die Striche haarfein. Nirgendwo fehlte ein Punkt. Jede Linie landete auf dem vorgesehenen Platz.
Die Fräulein „So-La-La“ konnte ihr Glück kaum fassen. Endlich hatte sie ein Mittel gefunden, um den übermütigen Clown in ihrem Mund in die Schranken zu weisen.
Beim Malen gelang ihr, woran sie mit Worten scheiterte. Jedes Bild geriet, wie es gedacht war.


Nie tauchte ein Auge dort auf, wo es nicht hingehörte. Nie entfernte sich eine Nase unerlaubt aus dem Bild. Nie wuchs ein Haar, wo es nicht wachsen sollte. Nie zappelte ein Arm an der falschen Stelle. Nie verschwand ein Bein, wenn es gebraucht wurde.
Als dem Fräulein „So-La-La“ eine Rolle Klebestreifen in die Hände fiel, begann sie, die Bilder an die Wand zu kleben. Bald hatten sich ihr Kinderzimmer in die Ahnengalerie einer Familie verwandelt, deren gemeinsames Merkmal ein melonengroßer Kugelkopf war.
„Irhe Gednaken bruachen veil Paltz.“, begründete das Fräulein „So-La-La“ die riesigen Köpfe ihrer Luftballonkinder.
Bei Sonnenschein leuchteten ihre Haare in einem kräftigen Gelb. Blinzelte der Mond aus der Ecke des Zeichenblattes, fiel die Wahl auf einen braunen Stift.
Zwei murmelgroße Punkte markierten die Augen. Ein senkrechter Strich, der mit in einem nach rechts verlaufenden Haken endete, bildete die Nase.
Einen Fingerbreit darunter lachte der Mund als geschwungene Linie aus dem Bild. Manchmal hing die Welle wie eine Hängeschaukel nach unten durch.
„Wnen eniem zum Lcahen ist, schuaeklt scih das Gülck.“ , erklärte das Fräulein „So-La-La“ die fröhlichen Gesichter.
Ein anderes Mal drehte sie die Welle um. Sogleich türmte sich der Mund zu einem kleinen Hügel auf, der dem Gesicht eine finstere Miene aufsetzte.
Beim Anblick der heruntergezogenen Mundwinkel zog das Fräulein „So-La-La“ die richtigen Schlüsse.
„Wnen man tarurig ist, luafen die Gednaken im Kpof bregauf .“, wusste sie aus eigener Erfahrung.
Zum Glück blieben die Gesichter, in denen sich die Gedanken über einen steilen Hügel quälen mussten, in der Minderheit. In den meisten Mienen, die das Fräulein „So-La-La“ auf Papier festhielt, schaukelte sich das Glück. Dabei besaßen ihre Luftballonkinder genügend Gründe, um ihre Gedanken bergauf laufen zu lassen.
Der dürre Hals, der sich abmühte, das schwere Gewicht des Kopfes im Gleichgewicht zu halten, ragte aus einem Kleid heraus, dessen Verwandtschaft mit einem Kartoffelsack offensichtlich war.


Unterhalb der schmalen Schultern ruderten zwei zur Seite gestreckte Arme ins Leere. Nicht viel besser erging es den Füßen. Sobald sie aus dem Kleid hervorschlüpften, baumelten sie über einem bodenlosen Abgrund.
Die Ähnlichkeit der Luftballkinder zu ihren aufblasbaren Verwandten war unverkennbar. Weder besaßen sie ein Dach über dem Kopf noch hatten sie einen Boden unter den Füßen.
Sie schwebten auf den Zeichenblättern wie Wolken am Himmel. Bis auf die Sonne, die von einem wolkenlosen Himmel strahlte, leistete ihnen niemand Gesellschaft. Hin und wieder tauchte der Mond in einer Ecke des Blattes auf. Ansonsten hatten sie keinerlei Abwechslung.
Auf die Frage, ob es sie auf Dauer nicht langweilte, eierförmige Kugelköpfe zu malen, zuckte das Fräulein „So-La-La ungerührt mit der Achsel.
„Jdeen Mrogen ghet die glieche Snone am Hmimel auf. Trtozdem ist jdeer Tag adners.“, verteidigte sie ihre künstlerische Freiheit.
Nach wenigen Wochen hatten die Luftballonkinder alle Wände des Kinderzimmers in Beschlag, ohne dass jemand Anstoß daran nahm.
Zu Beginn beäugte die Mutter die künstlerischen Versuche des Fräuleins „So-La-La“ mit Wohlwollen.
Die Luftballonkinder boten eine willkommene Unterstützung im Kampf gegen den verrückten Clown, der sich im Mund ihrer Tochter festgesetzt hatte.
Der ungewöhnlichen Freundschaft sollte jedoch eine kurze Dauer beschieden sein. Ein einziges Wort reichte aus, der vielversprechenden Malerkarriere des Fräuleins „So-La-La“ eine unselige Wendung zu geben.
Das Verhängnis begann mit einem harmlos gemeinten Scherz.
„Welchem Beruf können diese Strichmännchen mit ihren dünnen Armen und Beinen wohl nachgehen? “, spöttelte der Vater beim Betrachten des kunterbunten Geschwürs, das sich unaufhaltsam durch das Haus wühlte.
Das Fräulein So-La-La“ stemmte die Arme in die Hüfte und setzte einen Schmollmund auf.


„Das snid kiene Stirchmäncnhen!“, reagierte sie beleidigt.
„Was immer sie tun? Bestimmt bereiten sie mit ihrer Arbeit vielen Menschen eine Freude.“, mischte sich die Mutter in die Unterhaltung ein.
Ohne Absicht schuf die unbedachte Äußerung den Boden für den kommenden Schrecken.
Durch den mütterlichen Beistand ermuntert, maß das Fräulein „So-La-La“ den Vater mit einem verächtlichen Blick.
„Das bin ich als Stirchmäcdhen.“, verkündete sie mit stolz geschwellter Brust.
Der Satz detonierte mit der Wucht einer Bombe im Raum. Als sich der Rauch verzogen hatte, war auf den ersten Blick klar, dass jeder Versuch, ihn aus dem Gedächtnis zu tilgen, vergeblich sein würde.
Das Übel hatte seine Saat in die Welt gestreut.
Durch die dichte Haarpracht des Vaters zog sich ein nebeliger Grauton. Der Mutter setzten die Schockwellen, die der Satz verursachte hatte, um ein Vielfaches schlimmer zu. Binnen weniger Sekunden vertieften sich die verspielten Lachfalten um ihre Lippen zu breiten Kummergruben, die keine Makeup-Creme mehr auszufüllen imstande war.
Nie wieder stellte sie eine Frage zu den seltsamen Kugelgesichtern, die das Fräulein „So-La-La“ weiter mit Feuereifer zu Papier brachte.
Mit gesenktem Blick schlich sie an den Wänden vorüber, die mit ihnen volltapeziert waren als fürchtete sie, eines Tages tatsächlich die Gesichtszüge ihrer Tochter zu erkenne.
So kam es, dass das Fräulein „So-La-La“ ihre Kindheit an einem Ort verbrachte, an dem sich mehr Strichmädchen tummelten als anderswo in der Welt, ohne dass ihr Charakter daran Schaden nahm.