


Manche Dinge ereigneten sich, weil sie im Kalender standen. Weil es eine Zeitung druckte. Weil es der Programmzettel vorschrieb. Oder weil es einfach an der Zeit war. Aber das meiste geschah, weil es der Zufall so wollte. Er war der wahre König der Welt war der Zufall. Denn er passierte aus heiterem Himmel. Seine Herrschaft kannte keinen Beginn und kein Ende.
Er war auf kein Wohlgefallen angewiesen und auf keine Wiederwahl. Der Zufall war immer im Recht. Er musste niemanden überzeugen und für nichts Rechenschaft ablegen.
Kein Gesetz und keine Behörde konnten ihm etwas anhaben. Die Staatsanwälte und Richter mühten sich vergeblich mit ihm ab.
Mit dem bisschen Absicht, das zwischen Himmel und Erde existierte, suchte er keinen Streit. Der größte Anteil daran war ohnedies von ihm gefälscht. Und der Rest lohnte den Aufwand nicht. Sein Terminkalender war zu voll dafür.
Er kümmerte sich um Lottogewinne genauso, wie um Autos, die in einer Kurve schleuderten. Er trug die Verantwortung für Flugzeuge, die plötzlich vom Himmel stürzten oder Schiffbrüchige, die im letzten Augenblick gerettet wurden.
Sein Einsatz blieb stets vorbildlich. Mit dem gleichen Fleiß, mit dem er ein Leben rettete, verschleuderte er ein anderes.
Der Zufall hatte immer zu tun. Sein Arbeitstag dauerte vierundzwanzig Stunden. Er nahm sich kein Wochenende frei und fuhr niemals in den Urlaub.
Daher war es allzu verständlich, dass ihm einmal ein Irrtum unterlief, dachte sich das Fräulein „So-La-La“.
Ihrem Leben haftete nämlich gar nichts Unvorhersehbares an. Der Zufall hatte schlichtweg auf sie vergessen.
Was ihr widerfuhr, geschah nicht zufällig, sondern zu ihrem Besten. In ihrem Tagesablauf gab es für alles eine Regel und einen Plan.
Mit dem Zufall wäre kein Spaß zu treiben, nahm sich die Mutter kein Blatt vor dem Mund, um das Fräulein „So-La-La“ von ihm fernzuhalten.


Mit flammender Stimme brandmarkte sie seinen launenhaften Charakter, der die Sorglosigkeit der Opfer zum eigenen Vergnügen auskostete.
Der Zufall würde nicht zwischen Gut und Böse unterscheiden. Die einzige Vorliebe, die er bei seiner Beute erkennen ließe, wäre der Leichtsinn.
Jedes aufgeschlagene Knie, jede blutende Lippe und jede Beule am Kopf rechnete sie seinem schlechten Einfluss an.
„Die Geschenke, die er verteilt, sind teuer verzinst.“, warnte sie unermüdlich vor den Gefahren seiner Verlockungen.
Der Zufall beobachtete das seltsame Geschehen aus sicherem Abstand, ohne sich an den Feindseligkeiten, die ihm die Mutter entgegen brachte, zu kränken. Er wusste um seinen langen Atem.
Die Welt rollte auf einer schiefen Bahn. Und sie rollte ihm entgegen.
Je weiter der Bogen wurde, den die Mutter um ihn schlug, desto enger zog der Zufall die Schlinge. Es war bloß eine Frage der Zeit, bis er zu seinem Recht gelangte.
Mahnungen gab es zuhauf.
„Man müsste nur die Zeitungen aufschlagen, um seine Macht zu erfahren.“, schulmeisterten die hochgezogenen Augenbrauen.
„Die besten Absichten enden zumeist mit den schlimmsten Zufällen.“, prophezeiten die gestreckten Zeigefinger.
„Niemand würde die Friedhöfe und Kinderwägen erfolgreicher bestücken als er.“, meldeten sich die mitleidigen Stimmen zu Wort.
Die Mutter stellte sich mit breiter Brust dagegen.
„Nie und nimmer würde der Zufall einen Fuß über die Schwelle ihres Hauses setzen.“ knurrte sie kampfeslustig.
Ihre großspurige Ankündigung sorgte für heiteres Getuschel.
„Für einen solchen Kampf täte ihr mehr Fleisch auf den Rippen gut.“, höhnten die hochgezogenen Augenbrauen.
„So dick könnte sie gar nicht werden, um dem Zufall den Weg zu versperren.“, lachten die gestreckten Zeigefinger.
„Einen fetten Wurm fräße ein Vogel noch lieber als einen mageren.“, lästerten die mitleidigen Stimmen.


Auf dem Höhepunkt ihres Feldzuges gegen die unseligen Machenschaften des Zufalls rief die Mutter am Küchentisch eine Familienkonferenz ein.
Sie übernahm den Vorsitz. Der Vater war für das zustimmende Kopfnicken zuständig. Das Fräulein „So-La-La“ saß als stumme Zeugin in ihrer Mitte und blätterte zum Zeitvertreib in einem Bilderbuch.
Bei Kaffee und Kuchen wurde Maßnahmen beraten, wie dem Zufall endgültig aus dem Haus vertrieben werden konnte.
„Der Umgang mit ihm verleitet zu Müßiggang und Faulenzerei.“, eröffnete die Mutter die Feindseligkeiten und nippte an ihrer Tasse.
Der Vater nickte eilfertig und biss ein Stück vom Kuchen ab.
„Das Leben ist zu kurz, um es dem Zufall zu überlassen.“, brachte die Mutter die zweite Angriffswelle ins Rollen.
Abermals wackelte der Kopf des Vaters willfährig auf und ab.
Der Zufall steckte die Schläge der Mutter geduldig ein. Es wäre ihm ein Leichtes gewesen, sich in den Vorteil zu bringen.
Ein kurzer Anruf, der den Vater zu einem Notfall ins Büro befahl, hätte schon gereicht, die Entscheidung zu seinen Gunsten zu bringen.
Gleiches Unheil hätte auch die unangekündigte Lieferung der letzten Großbestellung der Mutter aus dem Versandhauskatalog gestiftet.
„Du hast nichts als deine Arbeit im Kopf.“, hätte die Mutter getobt und ihre Kanonen auf den ins Büro eilenden Vater gerichtet.
„Haben wir nicht schon genug Rechnungen im Haus?“, wäre der Vater angesichts der Größe der Paketlieferung explodiert.
Nichts von alldem geschah. Der Zufall rührte keinen Finger. Ohne Gegenwehr ertrug er die Anschuldigungen.
„Ich wäre nicht geworden, was ich bin, wenn ich mich dem Zufall anvertraut hätte.“, donnerte die Mutter siegesgewiss und schlug mit der Faust auf den Tisch.
Der Vater beeilte sich, es ihr gleich zu tun.


Das Fräulein „So-La-La“, das schweigend in ihrer Mitte saß, spürte ein leichtes Kitzeln auf ihrer Zunge.
Zufällig handelte das Bilderbuch, in dem sie blätterte, von einer Meerjungfrau, deren Gesichtszüge der Mutter zum Verwechseln ähnlich sahen.
„Ich wlil acuh enie „Mher-Jnugs-Faru“ wreden wie du.“, platzte es unvermittelt aus ihr heraus.
Der Vater erschrak über das Gehörte derart, dass er seinen Kuchen ausspuckte. Der Mutter fiel im Schock die Kaffeetasse aus der Hand, dass sich die schwarze Brühe über ihr Kleid ergoss.
Der Zufall blinzelte schadenfroh. Eindrucksvoll hatte sich wieder einmal die Überlegenheit seiner Natur bewiesen. Er war durch nichts zu verhindern. Denn er geschah aus heiterem Himmel.
Der Versprecher des Fräuleins „So-La-La“ besiegelte das vorzeitige Ende der Konferenz.
Mit hochrotem Kopf räumte die Mutter das Schlachtfeld. Es wurden keine Beschlüsse gefasst. Niemand hielt eine Abschlussrede. Man einigte sich darauf, dass sie nie stattgefunden hatte.
Der Zufall verließ zufrieden das Haus. Der Versprecher einer übermütigen Zunge hatte ihm einen großartigen Sieg beschert.
Nie wieder wagte es die Mutter, großspurige Reden gegen ihn zu führen. Zu groß war ihre Furcht, sich wieder vor aller Augen in eine Mehr-Jungs-Frau zu verwandeln.