

Das Fräulein „So-La-La“ lag mit einer fiebrigen Erkältung im Bett, als die Katastrophe aus heiterem Himmel über sie hereinbrach.
Ab den frühen Morgenstunden überschlugen sich die Nachrichtensender mit Eilmeldungen. Im Stundentakt flimmerten die neuesten Berichte zum Verlauf der Krankheit, die mit rasender Geschwindigkeit den ganzen Globus ansteckte, über die Bildschirme.
Allerorts stiegen die Temperaturen an. Das Fieber wälzte sich quer durch die Kontinente. Europa stöhnte unter der Hitze. Australien brannte lichterloh an allen Ecken und Enden. Amerika kochte unter einer Dampfglocke. Asien glühte wie flüssiges Eisen. Die Antarktis schmolz zu Wasser. Und in Afrika verdorrte das Gras.
Wohin die Kameras auch schwenkten. Die Welt schwitzte aus allen Poren.
Die mit der Untersuchung beauftragten Wissenschaftler bereiteten die Menschen bereits auf das Schlimmste vor.
Als das Fieberthermometer des Fräuleins „So-La-La“ im Lauf des Tages weiter anstieg, setzten die Nachrichten sogleich den bevorstehenden Weltuntergang ins Programm. Alle Anzeichen sprachen für ein nahendes Ende. Die Temperaturkurve der Welt hatte einen nie dagewesenen Höchststand erreicht.
Am Nordpol bröckelten die Eisberge. In der Karibik stiegen die Ozeane über die Ufer. Und in den Wüsten verwandelte sich der Sand in heiße Asche.
Mit Entsetzen blickte das Fräulein „So-La-La“ auf das Geschehen, das sich auf dem Fernsehschirm abspielte. Sie musste nicht lange überlegen, um zu begreifen, was geschehen war.
Als die Großmutter am Krankenbett auftauchte, hatte das arme Mädchen keinen Schimmer Farbe mehr im Gesicht. Ihre Haut war weiß wie eine frisch gestrichene Wand.
Mit letzter Kraft redete sich das Fräulein „So-La-La“ den Kummer von der Seele.
„Es ist miene Schlud, dsas die Wlet utnerghet.“
Die Großmutter setzte eine entrüstete Miene auf. Die geballte Faust vor ihrem Gesicht brachte zum Ausdruck, was dem Urheber dieser Verleumdung drohte, sollte sie ihn in die Finger bekommen.
„Wer behauptet solchen Unsinn?“, knurrte sie im Tonfall einer gereizten Dogge.


Allzu gern hätte sie eine hochgezogene Augenbraue gerupft, einen gestreckten Zeigefinger krumm gebogen oder eine mitleidige Stimme mit einem scharfen Ton zum Schweigen gebracht.
Aber dieses Mal hatten nicht die üblichen Verdächtigen ihre Hände im Spiel. Der Gegner, mit dem sie es zu tun bekam, war den einfältigen Störenfrieden um das Tausendfache überlegen.
Es war die Stimme aus den Nachrichten.
„Mien Feiber verbernnt die Wlet.“, schluchzte das Fräulein „So-La-La“.
Mit der schuldbewussten Miene eines auf frischer Tat ertappten Übeltäters zog sie das Fieberthermometer unter ihren Achseln hervor.
Die dunkle Quecksilbersäule lag um zwei Grad höher als ihre Normaltemperatur.
Der Anstieg entsprach genau dem Wert, der in den Nachrichten als Ursache genannt wurde, warum es auf der Welt an allen Ecken und Enden dampfte.
Dem Fräulein „So-La-La“ schwante ein noch viel größeres Unheil.
„Ich lsase den Nrodpol schemlzen.“, glaubte sie allen Ernstes, als Auslöser einer neuen Sintflut in die Geschichte einzugehen.
Die Großmutter geriet in Rage über diesen Unsinn.
„Ein Welt geht nicht unter, weil ein kleines Mädchen mit Fieber das Bett hüten muss.“, zürnte sie den Nachrichtensprechern, die derlei Feinheiten nicht zu unterscheiden wussten.
„Die Dinge liegen ein bisschen komplizierter.“, sagte sie.
Die Großmutter schob ihren Mund dicht an das Ohr des Fräuleins „So-La-La“.
„Die wahren Verursacher sind die Motoren.“, murmelte sie geheimnisvoll.
Dabei rümpfte sie verächtlich die Nase.
„Wleche Motroen?“, stolperte es aus dem Mund des Fräuleins „So-La-La“ .
Der Blick der Großmutter sprang zur Tür, als wollte sie sich vergewissern, dass hinter dem Schlüsselloch keine ungebetenen Ohren lauschten.
Mit dem Zeigefinger auf den Lippen deutete sie ihrer Enkelin still zu sein.
„Die Menschen wissen nichts davon. Es ist ein Geheimnis.“, flüsterte sie verschwörerisch.
In den folgenden Minuten verschlug es dem Fräulein „So-La-La“ den Atem. Denn aus dem Mund der Großmutter hörte sie schier Unglaubliches.
„Die Welt war ohne die Motoren glücklicher dran.“, berichtete Oma Rosa.


„Die Entfernungen wurden in Tagesmärschen gemessen und nicht in Stundenkilometern. Wer etwas mitzuteilen hatte, schrieb es auf Papier und klebte eine Marke auf einen Umschlag. Es dauerte oft Tage, bis ein Brief seinen Empfänger erreichte. Und die gleiche Zeitdauer nahm die Antwort in Anspruch.
In einer Welt, in der die Menschen zu Fuß gingen und die Briefe mit der Post kamen, traten die Gewinnkurven der Fabriken und Banken auf der Stelle. Sie wuchsen nicht mehr in die Höhe, sondern hingen wie die Äste einer Trauerweide zu Boden.
Bei ihrem Anblick gerieten die Generaldirektoren in Panik. In Windeseile griffen sie zu den Telefonhörern und riefen eine Konferenz ein, wo sie mit kleinen Hämmerchen besorgt auf die Tische klopften.“
Oma Rosa gönnte sich eine kurze Pause, um die trockene Kehle mit einem Schluck aus ihrem Likörfläschchen zu befeuchten.
„Wenn diese Kerle an einem Tisch sitzen, sind sie nicht voneinander zu unterscheiden.“, schimpfte sie mit frisch geölter Stimme.
„In ihren dunklen Anzügen gleichen sie sich wie ein Fisch dem anderen. Über ihre Gesichter huscht kein Lächeln. Zu ernst sind ihre Geschäfte. Zu schwer wiegen ihre Unterschriften. Dabei haben sie keine Kriege, sondern bloß die Buchhaltung zu führen.“
Die Großmutter machte kein Hehl darüber, was sie von diesem Menschenschlag hielt. Sie hasste alles, was nach Konserve roch. Und die Generaldirektoren in ihren Glastürmen rochen wie Fische aus der Dose.
„Die feinen Herren bilden sich mächtig etwas darauf, große Reden zu schwingen.“, tobte sie in Höchstform.
„Aber sobald ihre Gewinnkurven zusammenbrechen, fallen sie in das gleiche Gekreische wie ein Kind, dessen Lieblingsspielzeug unter das Bett gerollt ist.“
Ihre Stimme kochte über vor Wut. Sie musste dringend frisch geölt werden.
„Wie gnig die Konfreenz aus?“, nutzte das Fräulein „So-La-La“ die Getränkepause für eine Zwischenfrage.
Die Mundwinkel von Oma Rosa türmten sich zu einem steilen Hügel auf.
„Als sich die Gewinne nicht erholten, einigten sich die Direktoren der Banken und Fabriken darauf, die allerbesten Köpfe zu Rate zu ziehen.“, fasste sie das Ergebnis zusammen.
Auf der Welt geschahen die allerwunderlichsten Dinge, dachte sich das Fräulein „So-La-La“.


In Afrika mussten die Kinder barfuß laufen und Hunger leiden, weil keine Konferenz für sie tagte. Wenn aber irgendwo eine Gewinnkurve einknickte, wurde sofort nach Leuten mit einem Doktortitel telefoniert.
Vor ihren Augen tauchte eine kränkelnde Gewinnkurve auf, an deren Krankenbett sich unzählige Doktoren drängelten und ernste Blicke austauschten, als ginge die Welt mit ihr zugrunde.
„Hbaen die Äzrte enie Mdeizin gefnuden ?“, sorgte sie sich zum Schein um die Gewinne der Generaldirektoren.
Die Großmutter verneinte.
„Dafür war es zu spät. Die Krankheit befand sich bereits in einem fortgeschrittenen Stadium.“
„Dnan snid aus den Gneraldriketoren weider amre Leute gewroden?“, beschwor das Fräulein „So-La-La“ den Ruin der Banken und Fabriken herauf.
Abermals winkte die Großmutter ab.
„Ihr wehleidiges Geplärre war für die Welt unerträglich.“, fauchte sie.
In der Tat traf der Verlust ihrer Gewinnkurven die Generaldirektoren bis ins Mark. Nachdem die klügsten Köpfe den Schaden untersucht hatten, schrieben sie darüber einen langen Bericht.
„Ich habe selbst darin geblättert.“, steigerte die Großmutter die Spannung.
Aber was hatten die Doktoren herausgefunden? Dem Fräulein „So-La-La“ pochte vor Aufregung das Herz bis zum Hals.
Oma Rosa wählte jedes Wort mit Bedacht, als wollte sie ein düsteres Geheimnis in erträgliche Portionen aufteilen.
„Es lag an der Erdachse.“, fasste sie den Inhalt des Berichtes zusammen.
„Die Konstruktion war hoffnungslos veraltet. Die Welt drehte sich zu langsam, um die Gewinnkurven der Fabriken und Banken wieder ankurbeln zu können.
Es blieb ihnen eine einzige Möglichkeit, ihre Gewinne zu steigern. Sie mussten die Welt beschleunigen.“
Das Fräulein „So-La-La“ dachte an den alten Globus, der in der Dachkammer ihres Vaters verstaubte.
Die fußballgroße Erdkugel war an zwei Punkten mit einer starren Halterung verbunden, an der sich die Kugel im Kreis frei bewegte. Wenn man sie mit der Hand anschubste, drehte sie sich in einem schwindelerregenden Tempo um die eigene Achse.


Nicht auszumalen wagte sich das Fräulein „So-La-La“ die Vorstellung, in einer solchen Welt leben zu müssen. Durch die schnelle Drehung würde der Boden unter ihren Füßen schaukeln wie ein Schiff im Sturm. In den Häusern würden ständig die Möbel umkippen und die Bilder von den Wänden fallen.
In den oberen Stockwerken müssten sich die Menschen dicke Seile um die Bäuche binden, damit sie nicht aus den Fenstern stürzten.
Das Fräulein „So-La-La“ zweifelte keine Sekunde an der Entschlossenheit der Fabrikdirektoren, alle Hebeln in Bewegung zu setzen und Knöpfe zu drücken, die das Wachstum ihrer Gewinnkurve beschleunigten.
Für sie spielte es keine Rolle, ob die Teller und Gläser von den Tischen rutschten oder jemand aus dem achten Stock auf die Straße stürzte, weil er vergessen hatte, sich an einem Seil festzuknoten. Sie waren erst zufrieden, wenn ihre Gewinne wieder in schwindlige Höhen stiegen.
Die Zornesfalten im Gesicht von Oma Rosa bestätigten die düsteren Vorahnungen des Fräuleins „So-La-La“. Die Kerle hatten es tatsächlich getan.
Aber wie war es ihnen gelungen, die Geschwindigkeit der Erdkugel zu erhöhen, ohne dass den Menschen jeden Morgen das Frühstücksgeschirr um die Ohren flog?
„Sie haben Sonderschichten in ihren Fabriken angeordnet. Die besten Ingenieure mussten sich Tag und Nacht die Köpfe zerbrechen.“, schilderte die Großmutter das Unfassbare.
Mit schreckensbleichem Gesicht starrte das Fräulein „So-La-La“ zum Fenster hinaus. Auf der Straße vor dem Haus brausten die Autos vorbei. Am Horizont tauchte die dunkle Silhouette eines Schnellzuges auf. Hoch am Himmel eilte ein Jumbojet Wind und Wolken davon.
Wie hatte sie so blind sein können?, erschrak sie an sich selbst.
Wenn man genau hinsah, konnte man es mit freiem Auge erkennen. Es war kein Geheimnis. Alle wussten davon. Die Welt drehte sich jedes Jahr schneller im Kreis.
„Eines Morgens wurden die Menschen von einem gewaltigen Brummen aus dem Schlaf gerissen.“, polterte die Großmutter.
„Es war der Tag, an dem sie die Motoren gestartet haben. Seither sind sie überall. Sie haben sich wie ein Virus über die ganze Welt verbreitet.“


Für die Generaldirektoren der Fabriken und Banken brachen herrliche Zeiten an. Ihre Gewinnkurven schossen schneller in die Höhe als die Fieberthermometer zur Grippezeit.
Das Gesicht von Oma Rosa färbte sich dunkelrot. Die Zornesfalten auf ihrer Stirn wölbten sich zu einem Riesengebirge hoch.
„Man kann ihnen nicht mehr entkommen. Zu Lande sind es die Straßenmotoren. Auf dem Meer sind es die Wassermotoren. Über den Wolken sind es die Luftmotoren.“, brüllte sie gegen den Lärm in ihren Ohren an.
„Früher war die Welt eine einfache Apparatur gewesen.“, schimpfte sie.
„Nichts reiste schneller als ein Sandkorn im Wind. Nichts flog höher als eine Wolke am Himmel. Und nichts tauchte tiefer ins Wasser als ein Stein.
Mit der Erfindung der Motoren ist alles durcheinander geraten.“
Die Großmutter hatte sich heiß geredet. Das Blut in ihren Adern brodelte nahe dem Siedepunkt. Ihre Nasenlöcher sogen die Luft mit der Kraft eines Doppelvergasers ein.
„Willst du erfahren, wie sie es anstellen, dass niemand diese Höllenfahrt bemerkt?“, fragte sie mit einem verschwörerischen Blinzeln in den Augen. Und ob das Fräulein „So-La-La“ es wissen wollte.
„Ihre Motoren haben die Geschwindigkeit unsichtbar gemacht.“, behauptete die Großmutter.
Die finstere Miene in ihrem Gesicht brachte deutlich zum Ausdruck, was sie von den Ingenieuren hielt, die dieses Kunststück vollbracht hatten.
„Sie haben eine halsbrecherische Rennbahn aus der Welt gemacht.“, nannte sie das Übel beim Namen.
Der Trick, den sich die Ingenieure ausgedacht hatten, um die Erdachse zu beschleunigen und die Gewinnkurven der Banken und Fabriken zum Wachsen zu bringen, wäre allerdings leicht zu durchschauen. Man müsste dazu nichts weiter tun, als bei einer Fahrt mit dem Auto auf den Straßenrand zu achten.
Wild mit den Armen gestikulierend, schilderte Oma Rosa das verbrecherische Treiben der Motoren.
Sobald sich die Wagen im gleichen Abstand zueinander fortbewegten, wurde die Geschwindigkeit unsichtbar. Egal mit welchem Tempo sie dahinraste. Für alle, die in den Wagen saßen, schien sie stillzustehen. Ungeduldig gab man den Vordermann ein Zeichen, er möge auf das Gaspedal treten, um vorwärts zu kommen. Währenddessen klebten die nachkommenden Wagen Rückspiegel fest, wie ein Bild, das an der Wand hing.


Die Stimme der Großmutter begann zu krächzen. Ein hastiger Schluck aus dem Likörfläschchen in ihrer Handtasche glättete die rauen Töne.
Allerdings wäre den Ingenieuren der Fabrikdirektoren ein folgenschwerer Fehler unterlaufen, berichtete sie weiter.
In der Eile hatten sie vergessen, die Landschaft festzuschrauben. Sie flog einfach an den Fenstern vorbei. Als sie den Irrtum bemerkten, war es zu spät.
Das Fräulein „So-La-La“ zeigte sich entsetzt über die Weise wie es den Motoren gelungen war, die tatsächliche Geschwindigkeit der Welt vor den Menschen zu verschleiern.
Dabei genügte eine kurze Fahrt über die Autobahn, um es mit eigenen Augen zu sehen.
Während draußen die Landschaft vorbei raste, rührte man sich selbst nicht von der Stelle.
In den Augen der Großmutter hatte die Welt ihre maximale Höchstgeschwindigkeit längst überschritten. Es war nur noch eine Frage der Zeit, bis die Welt aus der Kurve flog.
Die Zeichen dafür waren überall zu sehen. Europa stöhnte unter der Hitze. Australien brannte lichterloh. Amerika kochte unter einer Dampfwolke. Asien glühte wie flüssiges Eisen. In der Antarktis schmolz das Eis. Und in Afrika verdorrte das letzte grüne Gras.
Was immer auch mit der Welt passierte. Es hatte nichts damit zu tun, dass ein kleines Mädchen mit Fieber das Bett hüten musste.
Die Großmutter hatte keine Zeitungen und keine Nachrichtensprecher nötig, um die wahre Ursache für das Unheil, das die Menschen bedrohte, in einem einzigen Satz zusammen zu fassen. Sie musste dafür nichts weiter tun, als sich zu erinnern.
„Als ich ein kleines Mädchen war, stand die Landschaft still, wenn man aus dem Fenster blickte.“, sagte sie.
ENDE.